As It Happens (In the Form of an Introduction)

Tag 1 unserer Manifesta-Reise, Zürich. Im Ausstellungsgebäude »Löwenbräukunst« in einer Ecke hinter einem Vorhang läuft ein Video auf einem kleinen Fernseher: »The Day Mankind Faded Away« von Mario García Torres (Abb. 2). Zu sehen ist wenig au­ßer flatternde, schwärmende Monarchfalter; zu hören ist wenig außer die Stimme des niederländischen Tenors und »singenden Kunstvermittlers« Eelke van Koot.1 Es gibt Untertitel, ein Satz prägt sich besonders ein: »Wir könnten niemals stattgefunden haben.«

George Berkeley war Theologe, Sensualist und Philosoph der Aufklärung, sein Hauptanliegen war die Widerlegung des Ma­teriebegriffs. »Wenn im Wald ein Baum umfällt, gibt es dann ein Geräusch, auch wenn niemand da ist?« Der philosophische Realismus argumentiert auf diese Frage, dass die Welt und die ihr innewohnenden Gegenstände unabhängig von unserem Denken seien, sprich: Begriff und Realität sind zu unterscheiden.

Dem zufolge existiere der Baum als Teil der Welt und macht Geräusche unabhängig davon, ob wir es hören oder nicht. Ber­keley hingegen vertritt die Ansicht, dass alles in der Welt Teil unseres Bewusstseins sei und die Wahrnehmung der Dinge durch geistige, nichtmaterielle Einflüsse beeinflusst würde. Er stellt die einfache Gleichung »Sein=wahrgenommen« auf; dies heißt für den Baum, dass er nur innerhalb unseres Wahrnehmungspro­zesses existiert, genauso wie das von ihm verursachte Geräusch beim Umfallen. Es existiert nach Berkeley also nur die Realität des eigenen Geistes.2

Was bedeutet das nun für die eingangs zitierte Aussage, wir könnten niemals stattgefunden haben? Wenn wir der Baum sind, wer hört uns dann beim Umfallen zu? Wer erzählt von uns, wenn niemand mehr da ist oder es uns nie gegeben hat? Mit diesen unbeantworteten Fragen und vielfältigen Gedanken lässt uns das Kunstwerk mit unserer eigenen Wahrnehmung zurück.

Mario García Torres ist Geschichtenerzähler. Geschichten machen das Unsichtbare sichtbar. Was kann mit visuellen Medien ausgedrückt werden und was nicht, wo gerät die visu­elle Argumentation an ihre Grenzen? Wo muss sie auch an ihre Grenzen geraten, weil das Unsichtbare einen Mehrwert bietet und erst die Überschreitung des Sichtbaren eine echte Gebung für die Wahrnehmung – quasi eine Wahrgebung – bietet?3

Das, was uns wirklich bewegt, ist das Unsichtbare an der Schnitt­stelle von Realität und Geist; Gedanken, Imaginationen, Zweifel und Ängste, Hoffnungen. Die Leere und das Abwesende als Akt ist das, was Mario García Torres beschäftigt; er verwendet oft spannende Geschichten und Narrative als Grundlage seiner künstlerischen Sprache und erinnert daran, wie viel das Sicht­bare dem Unsichtbaren verdankt.4 Kathrin Busch bezeichnet dies als »[…] ein durch das Bild gewecktes unstillbares Blickbe­gehren, das die Symmetrie zwischen Werk und Betrachter aus dem Gleichgewicht bringt«5. Meinem persönlichen Blickbegehren gebe ich am nächsten Tag nach.

TODAY AGAIN

I woke up
today again
I don´t know
What I
feel.

Tag 3 unserer Manifesta-Reise, Zürich. Rückkehr in die Löwen­bräukunst, zurück zu den Arbeiten von Mario García Torres. Neben dem Video »The Day Mankind Faded Away« war hier auch die Arbeit »The Artwork of the Future« (2016), die im Auftrag für die Manifesta 11 in Form eines Joint Ventures entstanden war, zu sehen. Wenn auch eigenständige Arbeiten, gehörten sie für mich unweigerlich zusammen, da sie gegenseitig auf sich referenzieren und für mich auch erst in dieser Beziehung existierten.

Monarchfalter kehren wie Zugvögel immer wieder zurück. Wandernde Tiere sind uns nicht unbekannt, es gibt Zugvögel, die von der Arktis in die Antarktis fliegen oder Wale, die von Ozean zu Ozean tauchen. Die orange-schwarze Schönheit, der Monarchfalter, kann jedoch als der »Superlativ der Superlative« bezeichnet werden: Das »Wandergebiet« des Falters umfasst bis zu 4000 Kilometer Nord- und Mittelamerikas, ein einzelner Fal­ter hingegen legt durchschnittlich bis zu 75 Kilometer pro Tag zurück, um schlussendlich sein Winterquartier in Zentralmexiko zu erreichen. Sein Zielgebiet entspricht mit einer Fläche von 1000 Quadratkilometer in etwa der Fläche der Insel Rügen; hier macht der Falter eine punktgenaue Landung.6

»Jeder Mensch hat eine Stimme und ich weiss [sic!], dass ich jeden Menschen zum singen [sic!] bringen kann.«7

THE BUTTERFLY FLAP OCCURED LONG BEFORE
WE EVEN THOUGHT ABOUT IT

Mmm mmmmmmmmmmmm
M m m m m m m m m m m m m m m
Hhhhhhhh…mmmmmmm
Hhhhuuuu…uuuuuuuuummmmmm
M m m m m m m m m m m m m m m
m m m m m m m m m m m m m m m
Hhhhhh hhmmmmmmm…
Hhhhuuuuuuuuuuuuummmmmm
Mmmmmmmmmmmmmmm
M m m m m m m m m m m m mm m
Hhhhhhhhmmmmmm…m
Hhhhuuuuuuuuuuu uummmmmm
M m m m m m m m m m m m m m m …
Hummmmmmmmmmmm Hum
Hhhhhh hhmm…mmmmm
Mhhhuuuuuuuuuuuuummmmmm
Hm.

Auf 18 Blatt blauem Papier schrieb Torres für seinen Host Chris­toph Homberger und für die Manifesta 11 ein Opernlibretto. Homberger ist eine international bekannte Persönlichkeit im Opernbetrieb, der sich Herbst 2014 nach einer 30-jährigen Kar­riere von den großen Bühnen verabschiedete, um neue Projekte anzupacken. Im Jahr 2015 will Homberger im Projekt »S´isch äben e Mönsch« Flüchtlingen in der Schweiz eine Stimme ge­ben: »Für das Singen braucht es keine Sprache oder es ist egal, welche Sprache man spricht.« erklärt Homberger.8 Mario García Torres Oper handelt »von der Sehnsucht nach Erlösung, während in der kriegsgeschüttelten Gegenwart eher ein gesellschaftli­cher Kollaps bevorzustehen scheint. Es gibt keine harmonische Zukunft.«9 Die Oper bleibt ungesungen, es gibt lediglich eine gesummte Begleitung, die auf der Manifesta im Löwenbräukunst präsentiert und an einigen Tagen während der Manifesta 11 im Radio übertragen wird.

Eine Etage höher finden sich Arbeiten von Mark Lombardi, der vor allem durch seine in Handarbeit gefertigten Soziogramme bekannt wurde, in denen er politisch-ökonomische Machtstruk­turen und Skandale ästhetisch aufbereitete. Die Flugbahnen des Monarchfalters erinnern uns an seine narrativen Netzwerke, an seine Kartografien des sozialen und politischen Terrains, in dem er lebt; in dem wir leben. Die Linien in Lombardis Zeichnungen repräsentieren Handlungen, symbolisieren Beziehungen und versuchen, das Geschehen der Zeit zu begreifen.10 Sie vermö­gen Geschichten zu erzählen, wie auch der Schmetterling auf seiner Reise durch die Welt. Im Arrangieren von narrativen Informationen archiviert er Gedanken, seine Beobachtungen realer Dinge und macht diese sichtbar. Wie machen wir uns noch einen Reim auf diese Welt?

A SIMPLE TRAP

The mammal is swifter that the reptile, the ape subtler than the ox, and the man the cleverest of all. The club is better than the fist, the arrow better than the club, the bullet better than the arrow.

Torres zitiert hier Ronald Wright, der in seinem Aufsatz »a short history of progress« die Geschichte des menschlichen Fortschritts und der Zivilisation nachzeichnet.11 Die Geschich­te von der Existenz der Menschen auf der Erde ist kurz. Seine Ausführungen über das »Law of Nature« sind kritisch, regen zum Nachdenken an: Sind wir kurz davor, in eine Falle zu tappen, uns auszurotten? Sind wir wirklich der Nabel der Welt, wer ist eigentlich der »Superlativ der Superlative« und was ist, wenn wir nie geschehen sind?

 

Fries

Anell Bernard


Q
1 Vgl. http://m11.manifesta.org/de/news/2016/05/31/eelke-van-koot-der-
singende-kunstvermittler.
2 Vgl. http://www.textlog.de/6269.html.
3 Vgl. Alloa/Falk 2013.
4 Vgl.http://www.artlog.net/de/kunstbulletin-11-2007/mario-garcia-torres-
der-kadist-art-foundation.
5 Vgl. Busch 2013, S. 381.
6 Vgl. http://www.geo.de/natur/tierwelt/12193-bstr-der-gefahrvolle-trek-
der-monarchfalter/120132-img-.
7 http://www.montagschor.ch/de/kfpage/worums-geht.
8 Vgl. ebd.
9 Manifesta 11 2016, S. 106
10 Vgl. http://daremag.de/2012/06/der-lombardi-code/.
11 Vgl. Wright 2006.
L
Alloa, Emmanuel/Francesca Falk (Hg.): BildÖkonomie. Haushalten mit Sicht­barkeiten, München 2013.
Busch, Kathrin: Gegeben sei: das Unsichtbare. Zur Anökonomie des Bildes. In: Emmanuel Alloa/Francesca Falk (Hg.):BildÖkonomie. Haushalten mit Sicht­barkeiten, München 2013. S. 371-393.
Manifesta 11 (Hg.): Manifesta Guide. Zürich 2016.
Wright, Ronald: A short history of progress. Edinburgh 2006.
Die Zwischenüberschriften und blauen Texte entstammen aus »The Artwork of the Future« (2016) von Mario García Torres.
A
Beitragsbild: Collage von Anell Bernard mit Elementen von Mario García Torres.
Fries: Zürich und die Manifesta – Was ist, wenn wir nie geschehen sind? Fotos: Anell Bernard.