Die Vermittlung beginnt mit einer Choreografie (Abb. 1, 2). Sie versetzt die Zuhörerinnen und Zuhörer in eine innere Ruhe und präsentiert autobiografische Versatzstücke des Schriftstellers Michel Houellebecq, der für die Manifesta 11 mit Dr. med. Henry Perschak, Chefarzt im Zentrum für Medizinische Abklärungen der Züricher Hirslanden-Klinik, zusammengearbeitet hat.


In Bewegung bleiben
Das in sich gekehrte Hören von Sätzen und Passagen, die Michel Houellebecq über sich selbst schreibt, regt zum Nachdenken über ihn oder aber die eigene Person an:
»Wie kam er bloß dazu, so einen Mist zu schreiben? Es war allgemein bekannt, dass Houllebecq ein Einzelgänger voller Menschenverachtung war, der sogar Mühe hatte, ein Wort an seinen Hund zu richten.«1
Wer ist man selbst als Mensch? Der Blick bleibt in beiden Fällen biografisch. Danach, so ist es geplant, verkehrt sich die Perspektive in eine Fremdwahrnehmung:
»Anthony war seit ihrem letzten Besuch etwas rundlicher geworden, das war wohl unvermeidlich, die Testosteronproduktion nimmt mit fortschreitendem Alter ab und die Fettmasse zu, er kam allmählich ins kritische Alter.«2
Wir betrachten Aufnahmen von Michel Houellebecqs Körper, vornehmlich seiner linken Hand und seines Kopfes, während wir seine Gedanken über den Körper anderer vernehmen. Die unrealistisch wirkenden Reproduktionen sind farblos, in Weiß und Schwarz mit Abstufungen von Grau und die Choreografin (Abb. 4) spricht im Stakkato.

zielle Manifesta-11-Art-Mediator Phil vor Zuhöreren aus
Paderborn.

Ich, die Vortragende, merke, wie mein Körper in den Mittelpunkt und in Konkurrenz zu Michel Houllebecq rückt. Die Wahrnehmung verschiebt sich auf zweifacher Ebene vom Selbst zum Anderen.
Schließlich werden Versatzstücke von Houellebecqs Meinung zum Thema »Arbeit«, welches das Leitthema der Manifesta 11 war, verlesen.
»Was definiert einen Menschen? Welches ist die erste Frage, die man einem Menschen stellt, wenn man sich nach seinem Zustand erkundigen will? In manchen Gesellschaften fragt man ihn zunächst, ob er verheiratet ist und ob er Kinder hat; in unseren
Gesellschaften fragt man ihn als Erstes nach seinem Beruf.«3
Wir nehmen bei der Betrachtung dieses globalen Themas eine Zwischenhaltung zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung ein. Ich trete aus dem Mittelpunkt zurück. Wir alle treten aus uns hervor und reflektieren auf einer Metaebene. Wenn das Schreiben eine Form von Denken ist, dann kann das Vorlesen von Geschriebenem als ein lautes Denken verstanden werden. Durch mich spricht Houellebecq von seinem Leben, über Arbeit und äußert sich zu seinen persönlichen »Lieblingsthemen« wie dem körperlichen oder gesellschaftlichen Verfall.
Ich übernahm seine Gedanken unreflektiert. Ob ich diese teile, ist während der Choreografie nicht zu erkennen. Ich gebe sie lediglich ungefiltert, jedoch selektiert wieder und werde zu seinem Sprachrohr. Ich inszeniere nicht mich, sondern uns alle.
Ich lenke die Wahrnehmung der Anderen. Ich bin aktiv, fast schon autoritär.
Das Scheitern als Vermittlung
So war es gedacht. Übertragen auf die künstlerische Arbeit berühren diese drei Themenbereiche jeweils den Künstler, das Werk und den Ausstellungskontext. Mit der Methode des Vortrages bot ich dem Publikum drei inhaltliche Impulse, um die Wahrnehmungsebenen zu wechseln und so einen persönlichen Zugang zum Werk zu
erlangen. An dieser Stelle scheiterte jedoch eben jenes Modell der Wahrnehmungsdiffusion: Die Zuhörerinnen und Zuhörer erreichten kein »punctum«, es gab keinen gemeinsamen Dis-
kussionsgrund. Die Arbeit wurde nicht interessanter.
Eine Rückführung auf die Selbstwahrnehmung fand statt:
Was habe ich empfunden?
Wie habe ich mich und andere wahrgenommen?
Was ist real und was inszeniert?
Bin ich OK?
Von Egoisten
Michel Houellebecq ist in der medialen Wahrnehmung ein Rebell, oder zumindest ein widerspenstiger Interviewpartner und Zeitgenosse. Er scheitert im Privaten wie im Medialen – nur seine Romane sind brillant? Es scheint, als schaffe er es, in einer fiktiven Welt nicht diskussionsbedürftig oder gar nicht diskussionswürdig zu sein.
Kontexte wie Bruce Naumans »Fifteen Pairs of Hands« (1996), die Ausstellung »Speaking with Hands« oder der Künstler als leidendes Genie könnte man bemühen, um der Arbeit Diskurse und Tiefe zu verleihen.
Auch die spärlichen Informationen über den Entstehungsprozess und die Zusammenarbeit mit dem Gastgeber, Arzt einer Züricher Privatklinik, ergeben nur ein unzufriedenstellendes
Bild: Die ganze »Aktion« könnte nicht länger als drei Stunden gedauert haben.
Ein unzureichendes Kunstwerk? Meinen auch die Kritiker.4 Im Laufe der Ausstellung wurde es zusehends ruhiger um die Teilnahme des Autors, der zu Beginn der Biennale in den meisten einschlägigen Zeitungsartikeln erwähnt wurde.5
Und dennoch: Mit selbstironischer Art gibt er wieder, was viele über ihn sagen, denken, schreiben, und liefert uns so geschickt nur eine indirekte Antwort auf seine (unsere) Frage. Er unterminiert so subtil die Fremdwahrnehmung anderer. In der künstlerischen Arbeit Michel Houllebecqs ist Fremd- mit Selbstwahrnehmung vermischt. Die Arbeit spielt mit dem Porträt als Mittel der Selbstdarstellung und Repräsentation, dem Symbol
der Maske als Verschleierung der Identität und Verwirrung der Fremdwahrnehmung und mit der Selbstinszenierung und der Wahrnehmung dieser. Die Arbeit spielt förmlich mit Themen wie Sein, Schein, Realität und Fiktion. Diese Diffusion wollte ich für
mein Modell nutzbar machen (und bin gescheitert).
Das Modellhafte
Dieses Vermitlungsmodell ist in seiner Intention dem kritischpartizipatorischen Diskurs zuzuschreiben. Die Interaktion zwischen Werk und Betrachtenden sowie die Rolle der Institution wurde jedoch in der Durchführung nicht weiter thematisiert.
Ferner soll dieses Modell keine konkrete Handlungsanweisung für eine Vermittlungssituation sein, sondern ein Impuls, die Richtung der Kritik mit dem Blick umzukehren. Vielleicht ist der Ausgang der Vermittlungssituation in Zürich auch ein Ausdruck von Verweigerung: eine Reaktion auf die verordnete Passivität
in Form einer subtilen Aktivität.
Das Modell der Wahrnehmungsdiffusion könnte auch auf andere Künstlerbeiträge der Manifesta 11 übertragen werden: beispielsweise die Arbeit von Teresa Margolles. Diese dreht sich um eine transsexuelle mexikanische Sexarbeiterin, die mit einem Stein
erschlagen wurde. Über folgenden möglichen Impuls, der nicht unbedingt das Vorlesen zur zentralen Methode hat, können in folgender Abfolge die Künstlerin bzw. Karla, Prostitution und Othering und abschließend Themen wie Gentrifizierung und das Mahnmal in den Blick genommen werden.
Material für die Choreografie bietet hier das Kunstwerk selbst. In einem Zimmer im Züricher »Hotel Rothaus« wird eine lebensgroße Fotografie neben der Sterbeurkunde von Karla, einem Stein und einer Audiospur präsentiert. Letztere enthält die Aussage des Mörders Ivon. In der Löwenbräukunst wird ein Video gezeigt, in dem Martina/Martin, ebenfalls Prostituierte/r in Mexiko, die Umstände und Gefahren dieser Arbeit anprangert.
Mit der Audiospur könnte die Verschiebung zur Fremdwahrnehmung von statten gehen. Das Video gäbe Anlass zu einem Oszillieren zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung. Wie ein konkreter Impuls für die Fokussierung der Selbstwahrnehmung zu Beginn aussehen könnte, müsste recherchiert werden. Vielleicht existieren Berichte der Betroffenen zur Arbeit auf Mexikos Straßen. Ferner könnte auch autobiografisch zu allgemeinen
Aspekten, die mit Karlas Tod zusammenhängen wie Femizid, Othering, Sexualität, geschrieben werden. Schließlich bieten sich hier auch subjektive Skizzen zur Raumsituation und der eigenen Positionierung, den eigenen Blickrichtungen darin an.