»Die Schweiz? Aber ich liebe sie!«
Dies notierte Thomas Mann schon 1923. Als Exilant verbrachte er die Jahre zwischen 1933 und 1938 in Küsnacht, anschließend in den USA. In der Schweiz fanden Thomas Mann und seine Familie Freunde; der Schriftsteller arbeitete hier an wichtigen Werken; und dennoch ist immer wieder von »Entwurzelung« in Briefen und Postkarten die Rede. Für seine Rückkehr nach Europa wählte er in den 1950er Jahren wieder die Schweiz. Er starb hier am 12. August 1955 im Zürcher Kantonsspital und wurde auf dem Friedhof seines letzten Wohnorts Kilchberg beigesetzt. Vom Exil zur Heimat?
Zürich lebt vom Widerspruch zwischen dynamischer Wirtschaftsmetropole und herausgeputzter Kleinstadt. Als »offene Stadt« war sie Plattform für die kriegsführenden Mächte im Ersten Weltkrieg, Ort der Flucht und des kulturellen Umbruchs, Bühne für dadaistische und surreale Szenen. 1916 wurde in der Spiegelgasse in Zürich das Cabaret Voltaire gegründet. Zu der subversiven »Mouvement International« gehörten u. a. Tristan Tzara, Hans Arp, Hugo Ball, Emmy Hennings, Sophie Tauber- Arp. In ihren collagierten Ausdrucks- und Darstellungsformen werden Einheit und Harmonie von Bildsprache und Motivwelten dynamisiert und fragmentiert und erscheinen dadurch so unruhig wie die Zeit, in der sie entstanden sind. Künstler, Asylsuchende, Pazifisten, Lebensreformer, Bohemiens, Wissenschaftler, Mäzene – Zürich ist und gibt sich polyfunktional, neutral, kosmopolitisch, protestantisch-reformiert, Stützpunkt moderner Dienstleistungslogistik. Eine »Global City«, zugleich Grenzland und transnationaler Interaktionsraum, aber auch fruchtbarer Boden für soziale und künstlerische Experimente.1 Aber bleibt sie »Festung Europas«?
»Every Exhibition is a Map«
2016 wird der deutsche Künstler und Kurator Christian Jankowski Leiter der Manifesta 11, für die Zürich in der Zeit vom 11. Juni bis 18. September zum temporären Ausstellungsraum wurde. Nach St. Petersburg, Trentino, Ljubijana und Rotterdam ist die Stadt am Limmat Schauplatz für die europäische Wanderbiennale. Hier soll sie als Event unterhalten, als Ausstellung Zugänge zur Gegenwartskunst schaffen und Dinge begreifbar machen, zugleich aber auch Forschungsarbeit zu einem Ort leisten. Ein wichtiges Ziel des »provozierenden und spielerischen« Konzepts von Jankowski ist die Realisierung einer Kollaboration zwischen der Bevölkerung und den Künstlern, was sich im gewählten Titel zeigt: »What People do for Money: Some Joint Ventures«.2
Dabei geht es um Zusammenführung von lokalen Berufstätigen und internationalen Künstlern, um Austausch über Arbeitsrealitäten und gegenseitiges Lernen, es geht um kreative Interventionen, wodurch Bisheriges in Neues bzw. Zukünftiges transformieren kann. Manifesta 11 will den gesellschafts-politischen Bedingungen in Zürich, ähnlich wie DADA vor 100 Jahren, aber auch einen Spiegel vorhalten und angesichts der europäischen Gesamtsituation (Massenmigration, Terrorismus, finanzielle Instabilität) eine Laborsituation schaffen, in der Fragen nach der eigenen Identität, nach unserem Standort in der globalen und krisenhaften Welt gestellt, erprobt, verhandelt, gedacht, umgeordnet, durch gespielt werden können.3 Wie aber lässt sich das angesichts einer Gegenwart und einer Kunst realisieren, deren Zeitgenossenschaft selbst zunehmend in Frage gestellt ist, so dass aktuell nur noch von einer »zukünftigen Gegenwart« bzw. von post-contemporary gesprochen wird?4 Was also ist das Zeitgenössische, was macht uns zu Zeitgenossen und Zeitzeugen mit Blick auf die Kunst der Manifesta 11 aus, die Prozesse der Entgrenzung weiter vorantreibt und zugleich auch neue Kunst- Weltkarten produziert?5
»Ich bin die Bewegung«
Diese Fragen haben neugierig gemacht und dazu sind wir angereist: eine Gruppe von Studierenden und Lehrenden der Universität Paderborn. Wir sind auf Exkursion nach Zürich gegangen, haben den Austausch miteinander, aber auch mit der Kunst gesucht und sind dafür unterschiedliche Wege gegangen: vor und zurück, neben und hintereinander, langsam und schnell und wieder langsam. Wir haben uns in das Gefüge der Stadt Zürich und damit in die Laborsituation der Manifesta 11 begeben. Durch eigene Modelle konnten Zugänge, Erfahrungen und Einsichten zur bzw. mit dem Gegenwärtigen und der Kunst entwickelt werden, die vielfach installativ, medienbasiert oder als mixed media auftrat und dabei historische Referenzen erkennen ließ. Manifesta 11, verteilt auf unterschiedliche Orte und Räume in der Stadt, eröffnete auf diese Weise zugleich überraschende und vielfältige Koppelungen von Topografie, Geschichte, Kultur und Kunst. Das in diese Bereiche eingeschriebene Motiv der Bewegung, haben wir als Leitgedanken für die Skizzierung einer Kunstvermittlung aufgegriffen, die je nach Perspektive und Koppelung zwischen Abstraktion und Figuration, zwischen Vergangenem und Zukünftigem, Exemplarischem und Diskursivem, Erwartung und Erfahrung, zwischen Selfie, Projekt und Installation zu pendeln beginnt. Aus den hier nur knapp umrissenen Prozessen von Dynamik und Unbestimmtheit resultiert jene »produktive Unruhe«, die Anna-Lena Wenzel gleichsam als Motor für einen geänderten Umgang mit dem Neuen und für eine veränderte Wahrnehmung und Haltung gegenüber dem Tradierten betrachtet.6 Die Autorin versteht Bewegung generell als grundlegenden Prozess des Sich-In-Beziehung-Setzens, wodurch unterschiedliche Felder wie Ästhetik, Kultur und Politik weniger durch ihre Differenzen aufeinander beziehbar sind. Es gilt vielmehr, die permanenten Bezugnahmen und Vereinbarkeiten des bzw. im Heterogenen heraus zu arbeiten, wodurch »Aushandlungsprozesse der Möglichkeiten« in den Blick geraten.7 Dadurch wird die Bewegung selbst zu einem »potenziellen Ort des Aufeinandertreffens von Heterogenem, an dem sich Möglichkeiten des Umdeutens und Nachdenkens ergeben und festgefahrene Ordnungen und Bedeutungen ins Wanken geraten. Dabei geht es nicht um die Auflösung der Differenzen […], sondern um das konfrontative ‚Miteinander-In-Beziehung-Setzen‘ […].“8
Die auf der Manifesta präsentierte künstlerische Arbeit von Maurizio Cattelan und der Gastgeberin Edith Wolf-Hunkeler (paralympische Weltmeisterin) steht stellvertretend für ein aus der (Grenz-)Bewegung generiertes Denken im Sinne einer multiperspektivischen Vernetzung von Einzelphänomenen, die möglicherweise nicht ohne weiteres zusammen gehören bzw. zusammenfinden würden. Die Metapher der Bewegung, die in der Arbeit von Cattelan und Wolf-Hunkeler gleich mehrfach eingeschrieben ist, wird durch die spezifische Kunstform der Performance auf dem Zürichsee in ihrer Dynamisierung zugleich als Bild veranschaulicht. Das künstlerische Projekt von Cattelan und Wolf-Hunkeler stellt in seiner Doppeldeutigkeit und Paradoxie, aber auch in seiner diskursiven Schichtung und Entgrenzung eine Herausforderung für die Kunstvermittlung dar. Es eröffnet aber auch vielfältige modellhafte Bauweisen für eine kunstvermittelnde Arbeitsweise, die interdisziplinär und selbstreflexiv verfährt, künstlerische, kulturwissenschaftliche und philosophische Diskurse in Beziehung zueinander bringt. Welche Anschlüsse an weitere künstlerische Projekte und Arbeiten sind unter dem Aspekt von Bewegung, Dynamik, Mobilität denkbar?
Kunstvermittlung als Konstellation:
Plattform, Pavillon, Papillon
Einen Ansatzpunkt für eine konstellierende Kunstvermittlung sehe ich in der Plattform, die für den Rollstuhl der Sportlerin entwickelt wurde, um in ihrer nach einem Autounfall eingeschränkten körperlichen Beweglichkeit über den Zürichsee zu fahren. Die Plattform, auf dem der Rollstuhl montiert ist, dient als Voraussetzung für die technische Ermöglichung von Bewegung. Sie steht aber auch für Halt, Stabilität und Balance und grundiert darüber ein Narrativ (biblisches Motiv), das sich in die Gegenwart hinein transzendiert. Die Plattform transformiert auf diese Weise in einen exponierten Raum. Ein Raum des Unbestimmbaren, »in dem Erfahrungen der Verunsicherung ebenso angeregt werden wie Momente der subjektiven Aneignung des Gesehenen.«9 Dieser Raum wird so zu einem »Verhandlungs- und Möglichkeitsraum unterschiedlicher Meinungen und Zugänge«10 und Haltungen und führt darüber Differenzen z. B. von Inklusion und Exklusion zusammen. Eine Fortsetzung dieser Assoziationen kann durch den Vergleich mit einer anderen, ebenfalls auf dem Zürichsee installierten Plattform ermöglicht und zugleich präzisiert werden. Gemeint ist die schwimmende Konstruktion des Pavillon of Reflections, der sich als Open-Air-Kino, als Bar, Pool und Tribüne anbietet und als überdachter, loungeartiger Hörsaal die vielschichtigen Funktionen bündelt. Entworfen von den Studierenden des Studios Tom Emerson der ETH Zürich ist der Pavillon von der Stadt aus über einen Steg erreichbar. Als verlängerter urbaner Raum bleibt er dennoch angebunden an das Festland, behauptet sich in seiner spezifisch temporären Holzkonstruktion zugleich als Modell gegenüber dem städtischen Erscheinungsbild, seinen Zeitmaßen und Rhythmisierungen.
Der Begriff »Pavillon« stammt vom lateinischen Wort »papillio« ab, was im eigentlichen Sinne »Schmetterling« bedeutet, worüber der Bogen weiter zu Evgeny Antufiev und seinem Projekt »Eternal Garden« (2015-2016), installiert im Grossmünster, eine evangelisch-reformerische Kirche in der Altstadt von Zürich, geschlagen werden kann. Pavillon und Plattform treffen sich in dem hier eröffneten bildlichen Kontext von Modell und Modellhaftigkeit in ihrer jeweiligen Temporalität und Prozesshaftigkeit. Beide eröffnen in den spezifischen Bezugnahmen zugleich vielfältige Transfers, wodurch Wertigkeitsgrenzen übersprungen und (neue) Sichtbarkeiten hervortreten, die wiederum unterschiedliche Zugänge, Lesarten und Übersetzungen ermöglichen. Der Begriff der Konstellation eignet sich daher besonders für eine solche Perspektivierung und Vorgehens- und Arbeitsweise. Zugleich verweist Konstellation als optische Figur auf das dynamische Gefüge einer Kunstvermittlungspraxis, die Motive, Dinge, Begriffe, Ansätze, Konzepte, Haltungen und Strukturen zusammen führt und zugleich in ihrer bereits erwähnten »produktiven Unruhe« belässt. »In dieser Konstellation gerät die Kunstvermittlung in eine neue Lage. Sie ist relevant für die Arbeit am Kunstbegriff, und sie kann selbst kunsthafte Züge entwickeln.«11
Welche Eindrücke und Assoziationen habe ich?
Auch wenn sich eine in groben Zügen beschriebene Kunstvermittlung als Konstellation eindeutigen Lesarten und Festschreibungen zu widersetzen scheint, entspricht eine solche Arbeitsweise stärker jenen ästhetischen Erfahrungen, die Momente des Assoziierbaren und des Affektiven betonen. Sie entspricht aber auch jenen zeitspezifischen Praktiken, die durch heterogene Aufteilungen konfrontiert werden und bestrebt sind, Strategien des Uneindeutigen und der Verweigerung mit zu reflektieren und letztlich in der Schwebe zu belassen. Aus dieser Perspektive liefert der Begriff der Konstellation in seinem traditionellen Verständnis ein anschauliches Bild für eine Kunstvermittlungspraxis, für die Offenheit und Selbstbestimmtheit kennzeichnend sind. »Konstellationen bezeichnet die Stellung von Sternen gegeneinander, von der Erde aus betrachtet.«12 Kunstvermittlung als Konstellation profiliert sich daher selbst über die inhärente Bewegung, d.h. dass sie ein Oszillieren zwischen verschiedenen Kontexten, Feldern und Bereichen sowie das »Spiel mit Mehr-und Uneindeutigkeiten« eröffnet. Kunst vermitteln bedeutet dann gerade nicht »einen Inhalt für alle Zeiten identifizierbar festzuschreiben, sondern eine Position zwischen dem Betrachtenden und dem ästhetischen Objekt, Konzept oder Ereignis herzustellen.“13
Die folgenden Fragen stellen temporäre Fixpunkte dar und liefern Bausteine für eine modellhafte und konstellierende Kunstvermittlung:
Welche Assoziationen bewirkt das Kunstwerk? Welche Frage(n) stellt das Werk? Welche Frage(n) habe ich? Gibt es Verbindungen zu anderen Werken, zu Orten, Ausstellungen, zu Künstlerinnen oder Künstlern und ihren Strategien? Lassen sich verstärkt Strukturen, Formen, Farben, aber auch Mentalitäten und Materialitäten heraus kristallisieren?
„Es geht beim Vermitteln also darum, mit einem Gegenstand etwas hervorzubringen, das uns selbst fremd ist und mit dem wir uns die Gewissheit darüber verschaffen können, dass wir es nicht restlos verstehen. […] Wir gewinnen viel, wenn wir uns klar machen, wie dieser Stoff funktioniert bzw. welche Gefüge wir mit ihm bilden können. Dieses Bilden von Gefügen ist die Vermittlungsarbeit.“14
Was will ich aufgreifen und vermittelbar machen? Wie sieht mein Modell von Kunstvermittlung aus? Und: Was ist mein Erkenntnisinteresse? Wie kann ich konstellierend verfahren, d.h. »Gefüge bilden«? Welche Kontexte und Felder bilden die Sterne und damit die nur momenthaften Fixpunkte, die ein immer neues Bild der Zusammenspiels hervorbringen: Topografie, Ort, Institution, Biografisches, Werk-Kontext(e), Gegenstand, Thema, Motivwelten, Genre, Gattung, Gegenwartskunst / Kunstbegriff, Display, Diskurs(e)…? Was bedeutet dann in diesem Zusammenhang: »Praxis der Teilhabe«? An welcher Stelle kann ich eine Mitwirkung, Interaktion bzw. einen Austausch, ein Gespräch initiieren? Und: Die »Kunsthaftigkeit des Vermittlungsvorgans entfalten« – möglicherweise durch: Performatives Handeln, Rollenspiel, einen Brief schreiben, eine Geschichte erfinden, ein Zitat vorlesen, gestalterisches Arbeiten, Zeichnen, Malen, Bauen, oder doch durch einen informierenden Vortrag?
Das bedeutet auch: Störungen zulassen, Unterbrechungen miteinbeziehen, scheitern, durchspielen, experimentieren, offen bleiben, offen lassen, überlassen, ausprobieren, an die Grenzen kommen, sich selbst wieder in Bewegung setzen.
Also noch einmal … anfangen.
Und: … weitermachen, wiederkommen …