Zwei »White Cubes« von unterschiedlicher Atmosphäre und doch ähnlicher Beschaffenheit: weiße Wände, der Geruch von Sterilität, helle Beleuchtung bei nur teilweise gewährtem Blick in die Außenwelt, Sitzgelegenheiten zum Pausieren oder Warten, Anonymität bei gleichzeitiger Verbundenheit, die Beobachtung der Anderen. Zwei Orte der Begegnung von Zahnärztin Dr. med. dent. Danielle Heller Fontana und dem norwegischen Künstler Torbjørn Rødland zu einem Joint Venture der Manifesta 11.
Ein Fotograf, dem man voyeuristischen Charakter, absurd und verstörend wirkende Fotografien mit erotischen Anspielungen unterstellt, in Zusammenarbeit mit einer Zahnärztin, die stets versucht, das Ideal des Schönen hervorzuheben und die Erwartungen ihrer Patientinnen und Patienten zu erfüllen – ein spannungsgeladener Dualismus. Inwiefern diese vermeintliche Kollaboration einen relevanten Beitrag zu der von Christian Jankowski formulierten Fragestellung »What People Do For Money« leistet, die einer kritischen Antwort bedarf, sei dahingestellt.
Die Praxis für »Ästhetische Zahnmedizin« hätte auch der Ort unserer »Ästhetischen Operation«1, der Kunstvermittlungsarbeit zu dem durch die Kollaboration entstandenem Werkkomplex »intra- & extra-oral« (2015), sein sollen. Nicht die Tatsache, dass einige ursprünglich dort ausgestellte Arbeiten auf wiederholte Bitte der Patientinnen und Patienten deinstalliert worden sind, sondern eine spontane Umstrukturierung unserer Reiseplanung war der Anlass, dass es anders kam.
Ortswechsel. Institutswechsel. Umgebungswechsel.
Keine klirrenden Werkzeuge, kein unangenehmes Bohrgeräusch, kein Desinfektionsmittelduft (der sogar ein wünschenswerter Kontrast zu dem immer noch in der Nase liegenden Fäkaliengestank Mike Bouchets‘ Installation hätte sein können) – stattdessen: das Löwenbräukunst Areal. In direkter Nachbarschaft: Positionen zu »Selbstporträts und Eigenwerbung«, darunter X‑T Kriszta Nagy‘s körperbezogene, feministische und medienkritische Arbeit »I Am a Contemporary Painter« (1998) und die durch digitale Malerei porträtierten Handgesten von Giovanne Olmas; der zu durchschreitende Raum davor: geprägt von der auf das Innerste ausgerichteten Arbeit »Die Reise des Samens« (2016) von Una Szemann, die durch die Kollaboration mit einem Psychologen und einem Psychoanalytiker entstanden ist. Die dargestellte Körperlichkeit, der skulpturale Moment der abgebildeten Hände sowie die Fokussierung auf tiefenpsychologische Prozesse sind Aspekte, die, wie zu zeigen sein wird, zu Torbjørn Rødlands Arbeiten überleiten und dort wiederzufinden sind.

Planänderung als Störung.
Störung als produktiver Moment.
Die Kunstvermittlerin fordert die Gruppe dazu auf, die auf drei Wänden verteilten, insgesamt sieben Fotografien Torbjørn Rødlands zu betrachten und sich vor dem Werk, das sie am stärksten »sticht«2, zu positionieren und in eine Wartehaltung zu begeben. Die Kunstvermittlerin verschwindet. Nach einiger Wartezeit taucht sie in der Rolle der behandelnden Zahnärztin wieder auf und ruft nun ihre Patientinnen und Patienten nacheinander auf, um sie in einem persönlichen Gespräch nach ihrem Befinden zu fragen.
»Mich hat was angegrinst, ich habe Hunger, ekelerregend, es geht mir gut, verstörend, ich habe Angst vor dem Zahnarzt, konzentriert, die anderen lenken mich ab, anonym, endlich komme ich zur Ruhe und kann für mich sein, Traurigkeit, Panik, ich suche nach dem Harmlosen, aussichtslos, ich bin erschöpft, ich bin ungeduldig, ich bin entspannt, ich bin gelangweilt, man gewöhnt sich an den Anblick, …«
Danach werden sie in die Wartehaltung zurückversetzt. Mit dem Aufruf der letzten Patientin wird die Szenerie, die den Aufenthalt im Wartezimmer Dr. Heller Fontanas Zahnarztpraxis simuliert, aufgelöst, und alle Teilnehmenden versammeln sich kreisförmig auf dem Boden zwischen Torbjørn Rødlands und den umgebenden Arbeiten. Es findet ein Austausch über die Erfahrungen der letzten Minuten statt: Die persönlichen Empfindungen werden mitgeteilt, Inneres wird erneut nach außen gekehrt, wodurch die Gruppe ins Gespräch über die gezeigten Arbeiten, die Ausstellungsorte sowie die darin angelegten Kontexte gelangt; die dargebotene Inszenierung als Vermittlungsmodell wird reflektiert.
Was ist hier gewöhnungsbedürftig?
»My job is to externalise images that are both, cultural and personal«3. Torbjørn Rødlands Fotografien sind Andeutungen. Sie verweisen auf etwas, das außerhalb der Bildoberfläche liegt. Die in der Löwenbräukunst gezeigten Fotografien, sowie auch die in der Zahnarztpraxis ausgestellten Werke, lassen sich in zwei Kategorien aufteilen: mit seinem voyeuristischen Blick inszeniert er einerseits Menschen in scheinbar realen Lebensräumen, andererseits bewegt er sich im Sujet des Stilllebens. Seine Fotografien erlauben nicht einfach vorbeizugehen. Man bleibt stehen; im (ver-)störenden Moment offenbart sich die Inszenierung seiner »Stills«. Still sind sie, verlockend, zugleich unheimlich. Physisches und emotionales Unbehagen breitet sich aus. Die Suche nach der Ursache dieses Symptoms, dieses »punctums«, wird zur Kunstvermittlungsarbeit.
»Guten Tag, ich bin Ihre behandelnde Kunstvermittlerin.«
Das Anamnesegespräch im Behandlungsraum ist ein intimer Dialog zwischen Ärztin und Patientin bzw. Patient mit dem Ziel möglichst viele Informationen über die Vorgeschichte von deren/dessen Krankheit herauszufinden. Der Fokus liegt dabei ganz auf dem Subjekt. Im Ausstellungsraum ist das Werk als ursächliche Krankheit, als konkreter Auslöser der Beschwerden unmittelbar am Gespräch beteiligt. Die Anamnese wird zur Selbst- und Werkerforschung.

»Mich hat was angegrinst…«
In den Bildern »Enamel Support« und »Impressions« reihen sich Gipsmodelle von Gebissen, klaffen auseinander, zerbrechen. Die skulptural wirkenden Objekte, in strenger Anordnung und starkem Schwarz-Weiß-Kontrast komponiert, wirken zunächst harmlos. Der fixierte Blick entdeckt jedoch den disruptiven Kniff: Unter den kalten, leblosen Gips, der als Kopie des eigentlich Abwesenden fungiert, mischt sich menschlicher Zahnschmelz. Das Stillleben wird zum beklemmend finsteren Memento mori.
Wie ein Alptraum präsentiert sich auch an der nächsten Wand die Arbeit »Cinnamon Roll«: Ein Gebissteil versteckt sich in einer auf weißer Papierserviette inszenierten Zimtschnecke. Zuckersünde und Zahnverfall, Ursache und Folge vereinen sich hier in der surrealen Kombination zweier Gegenstände, die zwar im Moment der Einverleibung unmittelbar zusammenhängen und doch durch das dargestellte Arrangement angsteinflößend wirken, zu einer Anti-Ästhetik.
Die runde Form der Zimtschnecke, an die sich im Inneren die fremden Zähne anschmiegen, erinnert an eine Mundöffnung. Eine 180°-Wendung des Blicks führt, diesen Eindruck bestätigend, zu den drei Fotografien »intraoral«. Hier werden Einblicke in die Mundhöhlen während zahnärztlicher Behandlungen gewährt. Kompositionen aus in Hygienehandschuhen verpackten weißen Händen, metallischen Werkzeugen und blauen Injektionsflüssigkeiten, die den fleischfarbenen Mund in spotlight-artiger Beleuchtung auseinanderzerren, versetzen den Körper in Anspannung und intensivieren jede Dentalphobie. Die Zurschaustellung jenes intimen Moments verweist auf andere Körperöffnungen und belegt den Voyeurismus in der Fotografie.
Ein Eingriff von Außen ins Innere des menschlichen Körpers wird auch in der Fotografie »Rays X« festgehalten: Nicht auf operativem Weg, sondern durch Röntgenbestrahlung dringt hier die Maschine unter die Oberfläche einer jungen Frau, deren Kopf zwischen blauen Bügeln fixiert und eingespannt ist. Ihr Gesichtsausdruck – geschlossene Augen, geöffneter Mund – ist meditativ, entspannt, gleichzeitig erregt. Durch das Studium dieser Ich-Konzentration wird der Betrachtende selbst zum eigenen Fokus gelenkt.
»A photograph or a collection of photographs that ignores its usual objective is… perverted. Perverted photography doesn‘t sell a product or communicate a message. It‘s not meant to be decoded, but to keep you in the process of looking. It‘s layered and complex. It mirrors and triggers you without end and for no good reason.«4
Die Kunst(-Vermittlung) des erwartungslosen Wartens
Torbjørn Rødland spricht im hier aufgeführten Zitat von einem Sehprozess, der ein aktives Betrachten impliziert, welches auch durch die im Rollenspiel initiierte Wartesituation erreicht werden soll. Das Wort »Warten« ist etymologisch betrachtet mit dem germanischen Wortstamm »-wara« (achtsam), aber auch mit dem schon früheren indogermanischen »uer-« (gewahren) verwandt und deutet somit auf das semantische Feld des Wartens im Sinne eines »Aufmerksamkeit-Richtens« hin.5 Die beiden Räume der Rezeption, Wartezimmer und Ausstellungsraum, unterscheiden sich in der Zeitlichkeit ihrer im Warten ausgerichteten Aufmerksamkeit.
Die Zeit im Wartezimmer, das Warten auf die bevorstehende Behandlung, ist mit Anspannung verbunden, die sich bis ins Unerträgliche steigern kann, wenn dem Geist keine Ablenkung geboten wird. Doch anstelle von leicht konsumierbaren Kunstdrucken oder harmonisch wirkenden Naturfotografien wird der Wartende nun mit den Arbeiten Torbjørn Rødlands konfrontiert. Dort, an ihrem Entstehungsort, intensivieren sie den Fokus auf das Bevorstehende und manipulieren dadurch dessen Rezeption. Die meist daraus resultierende Ablehnung jenes »Fremdkörpers« ist nachvollziehbar. Erst in der Dekontextualisierung der Arbeiten im Ausstellungsraum ist die Möglichkeit einer intensiven Wahrnehmung im Hier und Jetzt gegeben. Hier kann der Betrachter mit dem Werk »infiziert« werden. Das durchgeführte Rollenspiel mit der Imagination des abwesenden Raumes bricht dabei mit der Authentizität der Situation und ermöglicht eine andere ästhetische Erfahrung.
Der Anamnese würde normalerweise eine Diagnose und das Festlegen notwendiger Therapiemaßnahmen folgen. In der Kunstvermittlung entspräche die Diagnose jedoch der vernichtenden Festlegung oder gar Lösung des Werks. Eine eindeutige Antwort will und kann aber gar nicht gegeben werden. Eindeutigkeit ist Torbjørn Rødlands Arbeiten nicht inhärent, stattdessen konstituiert sich Bedeutung zwischen Werk und Betrachter bei jeder Begegnung neu.
Ein Therapieansatz der Kunstvermittlung wäre die Weiterarbeit mit dem Werk – eine Arbeit mit dem Stör-Moment, der Ursache des Symptoms und dessen schöpferischen Potenzials.
