Manifesta 11, Zürich. Künstler Marco Schmitt und Dr. Reto Scherrer, Kommunikationschef der Kantonspolizei, haben sich zusammengetan und präsentieren im Rahmen der Wander-biennale ihre Position »Xterminating Badges«. In der Polizeiwache an der Kasernenstraße können fündige Besucherinnen und Besucher zu bestimmten Öffnungszeiten die Videoarbeit sehen, die aus der Zusammenarbeit hervorging. In den Gängen der ehemaligen Kaserne eilen Uniformierte geschäftig hin und her. Es ist Mittags-pause. Von den passierenden Polizistinnen und Polizisten werden wir wahrgenommen und freundlich gegrüßt. Wie an Einkaufstüten zu erkennen, kommen sie gerade vom lokalen Supermarkt zurück, um in der Wache ihr Mittagessen einzunehmen (Abb. 1).

Der Schulungsraum der Polizeiwache wurde umfunktioniert, der Kunst angepasst. Tische wurden zur Seite gerückt, die Stühle sind zur Leinwand hin aufgereiht. Die knapp halbstündige Videoarbeit adaptiert Luis Buñuels »Würgeengel«, englisch: »The Exterminating Angel«. Polizistinnen und Polizisten der Wache und der Künstler selbst übernehmen die Filmrollen. Dem Original gleich treffen die Akteure zu einem Dinner ein und finden sich in einem Raum wieder, welchen sie aus unerklärlichen Gründen nicht wieder verlassen können. Für 29 Minuten sind auch wir im Schulungsraum der Polizeiwache »gefangen«. Inhaltliche Erklärungen zur Videoarbeit erübrigen sich, denn Marco Schmitts zeitgenössische und stark künstlerisch geprägte Adaption spielt ebenso wie das Original surrealistische Elemente zwischen Eindeutigkeit und Offensichtlichkeit sowie Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit geschickt gegeneinander aus, ohne Betrachterinnen und Betrachter zu entgeistern. Dies war also einer der Satelliten der Manifesta.
The Tourist
Neben dem Blick auf »das Kunstwerk«, ob ein Satellit oder Ausstellungsstück in den bekannten Kunst-Institutionen, lohnt sich für Biennalen-Besucherinnen und -Besucher stets vor allem ein Blick auf sich selbst. Welche Rolle nehmen wir ein, was hat uns dazu bewegt hierher zu kommen, was machen wir hier eigentlich? Gelockt von Image und Tradition, einer Vision, deren Manifestation lange vor Eröffnung der Biennale über das Internetportal der Manifesta und über die Presse verfolgt werden konnte; Interviews und Konzepterklärungen; ein Katalog ohne nennenswerten vermittlerischen Anteil; ein Honigtopf aus Spektakel- und Kunstlust, genährt von einer vagen Einladung, von Reklame und bunten Bildern. Wir sind Kunst-Touristen. Kaum in Zürich angekommen, führt der Weg zur Touristeninformation, wo wir Broschüren und Stadtkarten erhalten.
Mit einem Vorsatz, mit einer Erwartung angereist, überfordert den Touristen die Fremdheit, das Maß frischer Eindrücke, die Notwendigkeit sich neu zu orientieren und die umgebende Umwelt neu zu erfahren. Schließlich manifestiert sich jede einzelne künstlerische Position an drei verschiedenen Orten: einem Satelliten, in einer Kunst-
institution und im »Pavillon of Reflections«. Die »Manifesta 11 Map« teilt uns alles mit, was wir wissen müssen, um uns beim Vorhaben zu unterstützen, Kunst zu sehen: die ausstellenden Institutionen, die dreißig Satelliten samt Anfahrtsmöglichkeiten und Öffnungszeiten, einige topografische Anhaltspunkte – die Kunstorte prominent her-
vorgehoben, gleich den Sehenswürdigkeiten in typischen Karten des Städtetourismus. Rasch ist der Aufenthalt geplant, ein Stationenlauf aufgestellt. Mit dem Allwissen, dass uns die Broschüren und Karten suggerieren, bewegen wir uns fokussiert und in imperialistischer Manier durch fremdes Terrain, bis wir letztlich unsere Wohlfühlzonen
erreichen und das sehen, was wir sehen wollen: die Kunst.
Real Tourist
Die Rolle als (Kunst-)Tourist, die wir fast automatisch einnehmen, entfaltet sich vor dem Hintergrund der kuratorischen Konzeption der Manifesta 11 in ihrer vollen Problematik: Peter Haerle, Kulturbeauftragter der Stadt Zürich, proklamiert »ein kollektives Experiment in einer offenen Stadt.«1 Um die Frage zu klären, ob Kunst noch Wirkung
erzielen könne, werde die Stadt Zürich zum Ausstellungsraum und die Gesellschaft zum Ausstellungsgegenstand.2 Wie kann ein solches Experiment überhaupt zustande kommen, wenn das Begleitmaterial der Manifesta und die Auslagen an der Touristen-Information gerade der Unwissenheit und Unsicherheit vorbeugen – beides Vorausset-
zungen eines Experimentes? Mit einem Blick auf die Karte erübrigt sich die Nachfrage nach dem Weg bei einem Passanten; Die Rolle des Touristen spielt ihre Zwänge aus, das vermeintliche Allwissen schmälert unseren Wahrnehmungsbereich. Der Kurator der Manifesta, Christian Jankowski, empfiehlt: »Besser ist es einander wie Außerirdische zu betrachten.«3

Doch wie verlässt man die Betrachtungsweise eines Touristen? Jankowski zitiert Hans Schnier, Protagonist aus Heinrich Bölls »Ansichten eines Clowns«, und ruft Besucherinnen und Besucher der Manifesta zur Rollenverschiebung nach Heinrich Böll auf: »Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke«. Der Tourist muss der Rolle als
solcher entwöhnt werden. Dazu muss der Tourist jedoch nicht zum Clown werden. Eine Thematisierung der Rolle reicht aus: Warum sind wir hier, was machen wir hier eigentlich? Das Vermittlungsmodell sieht vor, den Touristen in seiner Rolleneinnahme zu entlarven: Er wird zum »Real Tourist« ernannt. Er wird etikittiert. Durch Auf-
merksammachen, durch eine Übertreibung der Touristenrolle, ein Sichtbarmachen mittels Etikettierung, wird die nötige Distanz zur eingenommenen Rolle hergestellt, um am kollektiven Experiment teilzuhaben. Dem Touristen wird eine modifizierte Rolle zugeschrieben, in die er noch hineinwachsen muss, die er aktiv mitkonstruieren
kann. Zudem generiert die Etikettierung Peinlichkeit: Der Tourist passt jetzt nicht mehr ins Stadtbild, wird erkannt und weiß dies. Nicht nur der Tourist soll etikittiert werden, auch die Vermittlerin bzw. der Vermittler erhält ein Etikett: In der Rolle des »Real Guide«
(Abb. 2) werden ebenfalls neue Horizonte eröffnet.
Blank Spaces
Bewaffnet mit Manifesta 11 Map und Stadtkarte ist es ein Leichtes von einer Station zur nächsten zu kommen. Sie führt zudem alle beteiligten Kunstinstitutionen in alphabetischer Ordnung und alle Satelliten in numerischer Ordnung auf. Die Listung wirkt hierarchisch mit einer klaren Konnotation von Zentrum und Peripherie; sie ist eine Check-Liste, an der wir nachvollziehen können, welche Ziele bereits erreicht wurden und welches Pensum noch zu erledigen ist. Doch vor dem Hintergrund des Leitgedankens der Manifesta 11 erscheint diese zielorientierte Darstellung problematisch. Die Manifesta 11 Map vermittelt dem Touristen den Eindruck, das Sehenswerte an den markierten Orten vorzufinden. Die Arbeit, uns eine fremde Stadt zu
erschließen, mental und reell zu kartographieren, Dinge zu verorten und Verknüpfungen, Orientierung herzustellen, wird uns abgenommen: Das Ziel ist prominent, der Weg bleibt auf der Strecke! So erfährt der Tourist weder etwas von dem Ausstellungsraum »Stadt« noch vom Ausstellungsgegenstand »Gesellschaft«.
Mit dem Begleitmaterial inklusive Manifesta 11 Map hat sich die Biennale aus der Notwendigkeit, ihre Gäste zu informieren, heraus, ihren eigenen »Würgeengel« geschaffen. Wie gehen wir als Kunstvermittlerinnen und Kunstvermittler mit solch einer Situation um? Wir müssen die vorgefilterten Infrastrukturen verlassen: Nicht nur
die Kunst ist vermittlungsbedürftig, auch die Institution, die Stadt, die Gesellschaft, das Globale…
Die Wahl fällt auf andere Verkehrsmittel als Tram und Bus, wie Fahrräder oder die eigenen Füße. Die Trivialität des »Aufdemwegseins« kann aufgedeckt und zum Ereignis werden. Den »Real Tourists« muss ihr Allwissen, dass ihnen durch die Manifesta 11 Maps suggeriert wird, entrissen werden: Auch die Karten benötigen Etiketten! Ausgewählte Bereiche der Karte können durch Überkleben zu unerschlossenem Gebiet ernannt werden; Werden die Zielmarkierungen verdeckt, funktioniert die Informationszuordnung über die Legende der Karte nicht mehr und das Ziel wird ungewiss, der Weg wird erfahrbar. Der Tourist wird zum Kartographen.
Real Places
So kann sich eine Gesprächskultur des »Aufdemwegseins« entwickeln. Nicht das Kunstwerk, sondern die Gänge der Polizeiwache laden zum Verweilen ein oder das nächste Café. Erst hier, in solchen Zwischenräumen, kann ein Netzwerk zwischen Kunst, Stadt und Öffentlichkeit entstehen, vor dessen Hintergrund das Konzipierte und das Gesehene gewinnbringend erforscht und hinterfragt werden kann. Diese Räume des »Dazwischenseins« müssen erkannt und anerkannt werden. Sie werden zu »Real Places« und hinterlassen so Spuren, die Fragen aufwerfen und andere Touristen zum Nachdenken anregen.