Einblick – Ausblick – Überblick
Mit »Meinen Sie Zürich zum Beispiel sei eine tiefere Stadt, wo man Wunder und Weihen immer als Inhalt hat?« stellt Gottfried Benn im Gedicht »Reisen« (1950) die doppelte Identität des Ortes und des Subjekts in Frage, wie schon Heinrich Heine in seinen »Reise-Bildern« von 1826. Die Literatur hatte seit dem 18. Jahrhundert diese Koppelung behauptet und entsprechend umgesetzt. So etwa der Schweiz- und Zürich-Reisende Goethe in seiner »Italienischen Reise« (1786/1788), die aufgrund von Fremderfahrung zur Selbsterfahrung führt und damit zur Identitätsfindung im Sinne einer Neu- oder Wiedergeburt. Dass es sich hierbei zugleich um eine Idee mit literarisch-fiktionaler Umsetzung handelt, wird spätestens durch die Infragestellung der Idee bei Benn klar. So wird man möglicherweise behaupten können, dass nur Fiktion und Imagination die Koppelung von
Ort und Identität ermöglicht.
Wird Zürich vom 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer Hauptstadt der deutschen Literatur und Kultur, so gehört zu dieser zentralen Stellung immer auch die anvisierte Identitätsfrage hinzu. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts werden Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger zu einflussreichen Literaturtheoretikern aufgrund der Neubewertung des »Wunderbaren« und der »Einbildungskraft«, die zu einer Aufwertung der Fiktion und damit zum Aufstieg der deutschen Literatur um 1800 führt. Der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater leistet mit seinen »Physiognomischen Fragmenten«
(1775/1778) einen wichtigen Beitrag zur Frage der epischen Individualitätsdarstellung und Identitätsfindung, denen auch durch empirische Gesichtsarchivierungen, etwa auf Reisen in
Großstädte, nachgegangen wird. Aber diese physiognomische Identität der »Gesichtserkennung«, wie man heute im Sprachvokabular der Kriminologie sagt, ist schon damals höchst umstritten, auch wenn sie in der calvinistischen Identität von Zürich tief verwurzelt ist. Gottfried Kellers »Grüner Heinrich« (1854/55) folgt dem narrativen Schema Goethes recht genau, indem der Heimatort Zürich verlassen wird, um durch die Reise
in die Kunstmetropole München die neue Identität des Künstlers zu finden, was indessen scheitert und ihn zur Rückkehr in die ursprüngliche Heimatidentität von Stadt und Beruf als Stadtschreiber zwingt. Die »Desillusionsromantik« (Lukács) des modernen Romans beginnt für die deutsche Literatur mit Kellers Roman und desillusioniert insbesondere auch das Narrativ von Identitätsfindung durch Fremderfahrung. War der fiktionale Anteil zur Aufrechterhaltung des Schemas groß, denn auch Goethes Italien war ja eine grandiose Projektion mit den ebenso grandiosen Folgen der Installierung der Weimarer Klassik, so
werden berühmte Exilanten wie Georg Büchner und Wladimir Iljitsch Lenin diesen Einbruch der realen Fremde in Zürich erleben, so dass die Heimatidentität des Ortes endgültig zwiespältig wird oder zerbricht. Dies belegen im 20. Jahrhundert dann vor
allem Thomas Mann oder Bertolt Brecht, die in Zürich zwar eine temporäre Heimat finden, die aber nie zur personalen Identität werden kann. Kokettiert Mann mit dem Zweitwohnsitz einer neuen Heimat DDR, so wird Brecht seine politische Heimat in
Ostberlin finden, die aber kaum eine künstlerische genannt werden kann. So werden viele Stücke, die im Exil geschrieben wurden, am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt. Der Besuch dieser Aufführungen und die Treffen mit Brecht in Zürich beeinflussen wiederum Max Frischs Schriftstellerexistenz, für dessen Werk die verleugnete Identität leitmotivisch wird: »Ich bin nicht Stiller« beginnt Frischs gleichnamiger Roman von 1950. Frisch entlarvt noch radikaler auch die Erzählweisen, die die Koppelung von persönlicher Identitätsfindung oder -verleugnung an die Fremderfahrung der Reise ermöglichten, indem Reisen eher zum Identitätsverlust führt oder allenfalls eine beständige Suche nach dem Selbst dokumentiert, so in den Tagebüchern Frischs, die sich oft dem Genre der Reiseerzählung annähern.
Dass Zürich durch eine urbane Heimeligkeit so etwas wie Heimat oder gar Ortsidentität bis heute repräsentiert, belegen die Anziehungskräfte der Stadt, die ja nicht nur, oder gerade nicht ökonomisch begründet sind. Die Frage stellt sich, wie diese »reale« Erfahrung von an den Ort gebundener Heimat oder Identität im Verhältnis steht zur hier entfalteten Skizze einer nur literarisch evozierten fiktiven Identität und deren ebenfalls literarisch vollzogener Desillusionierung. Die Kriegsgegner, die sich 1917 im Cabaret Voltaire treffen und dadaistische Aktionen aufführen, initiieren zwar eine einflussreiche avantgardistische
Kunstbewegung, können aber das desaströse Kriegsende nicht maßgeblich beeinflussen. Insofern handelt es sich dabei um ein mediales Ereignis mit allen Implikationen von Theatralisierung und Fiktionalisierung, mit denen Zürich teil hat an einem historischen Ereignis von globaler Bedeutung. Vielleicht ermöglicht gerade diese relative Provinzialität und Distanziertheit des Ortes, die an diesen Ort gebundene Identitätsfindung von Heimatgefühlen, in der mediale Ereignisse stattfanden, die die Fiktionalität dieser Identität garantieren und nicht durch wirkliche Ereignisse wie den Krieg gefährden.
Zürich als Ort für persönliche Identität gelingt nur dann, wenn dieser Ort durch künstlerische und medienkulturelle Aktionen, wie z.B. die Manifesta, deren Fiktionen freilegt und immer wieder neu realisiert, so etwa die Wiederaufnahme dadaistischer Aktionen von 1916 im Jahre 2016. Nur, wenn der Ort die Imaginationen offenbart und präsentiert, die seine (kulturelle) Identität ausmachen und bestimm(t)en, finden momentweise die realen Bilder des Ortes, die Pictures und die imaginierten Bilder des
Ortes im Kopf zusammen. Dieses Zusammentreffen von Pictureund Image, von realer Ortserfahrung und fiktionaler Ortserfindung oder Projektion, findet wiederum in literarischen Genres wie den Tagebüchern und Briefen Max Frischs, Thomas Manns
oder Bertolt Brechts statt oder dem autobiografischen Roman Gottfried Kellers. Kellers genaue Ortsbeschreibungen sind heute noch in der kriegsunzerstörten Altstadt Zürichs wiederauffindbar und anschaubar. Dieses Zusammentreffen von fotografischem
Picture und literarischem Image ermöglicht die Identitätserfahrung von realem und imaginiertem Ort. Zürich konnte Max Frisch als Wohn- und Heimatort nur ertragen, wenn er viel auf Reisen war und so seine fiktionale Kreativität im Erstellen von
Bildprojektionen auf den realen Ort übertrug oder den Ort mit den Bildprojektionen des Autors konfrontierte und momentweise im literarischen Tagebuch zur Deckung und Identität brachte. Einen solchen Zusammenprall von realer Erfahrung und lite-
rarischer Projektion, von Fremdheit und Eigenheit, der zum momentweisen Heimatgefühl sich steigert, schildert folgender Eintrag von Max Frisch:
»Café de la Terrasse. Was auffällt, wenn man draußen gewesen ist: das Verkrampfte unserer Landsleute, das Unfreie unseres Umganges, ihre Gesichter voll Fleiß und Unlust […] in besseren Kreisen sind es Pestalozzi, Gotthelf, Burckhardt, Keller und andere Verstorbene, die man sich ins Knopfloch steckt; man erschrickt oft über sich selber […] Kultur als eine Sache des ganzen Volkes […] ich meine weniger die Verwirklichung, son-
dern die Idee der Schweiz, die ich vor allem liebe […] nach der Idee, die unsere eigentliche Heimat ist […] unsere Heimat ist der Mensch […] darin besteht ja das große Glück, Sohn eines kleinen Landes zu sein.«1

OBEN
1
Die Fakten von einer Seite her zu kennen,
reicht oft nicht aus.
3
Denken in neuen Zusammenhängen,
das Unmögliche war schon immer machbar.
5
Den umliegenden Raum ausschliessen. Nationalmannschaft
aus dem 3-D Drucker, sie hat alle Zeit der Welt!
7
Der Meister referiert; sie lauschen respektvoll,
sinnieren kritisch und amüsieren sich spöttisch.
9
Die Metamorphose des goldenen Kalbs.
Oder sich mit den richtigen Menschen umgeben.
10
Narrative der gelebten Verzückung.
Entscheidungenx treffen für die Zukunft!
UNTEN
2
Entscheidungen werden durch
wenige Allianzen getroffen.
4
Welt ohne Menschen, eine Herausforderung für
zukünftige soziale Dimensionen des urbanen Lebens?
6
Sie nimmt sich die Freiheit,
der Bedrohung von zwei Seiten zum Trotz.
8
Der Kaiserin neue Kleider! Die Verweiblichung
der Schweizerfahne mit einem touch orange.
10
Die Wand, mehr als nur eine Mauer.
Welche Sprache spricht die Kunst?
12
Wirkt sich diese Erfahrung auf
meine Lebensauffassung aus?

Andreas Käuser und Therese Weber