1974/2020 – Was kann man mit einer Postkarte tun? Und: Warum?

»1974 waren die Vereinigten Staaten von Amerika in der Krise.« Mit diesem Satz beginnt David Levi Strauss seinen Essay „Für den Fall, dass in der Zukunft etwas anderes kommt: Joseph Beuys und der 11. September“ (2012, S.503). Es scheint, als ließe sich nicht nur die Jahreszahl in diesem Einführungssatz ständig aktualisieren, sondern auch das Subjekt beliebig variieren. Die Welt, wir alle, befinden uns in einer andauernden Krise. Krise ist (auch) 2020 der Normalzustand.

1974 unternimmt Joseph Beuys seine legendäre Reise nach New York. »Beuys faszinierten die Twin Towers. Beim Anflug auf den John F. Kennedy Flughafen am 19. Januar dürften sie ihm in ihrer ganzen Majestät erscheinen sein.« (Levi Strauss, ebd.) Doch ihm ging es nicht nur um die architektonisch-skulpturale Fragestellung der kristallinen Form, die seiner Theorie der Sozialen Plastik direkt entgegengesetzt war: »Diese Türme standen unmittelbar für (sie symbolisierten) das globalisierte Kapital und die amerikanische Vorherrschaft auf dem Weltmarkt.« (Levi Strauss, ebd.) Ohne die real stattfindende Gewalt zu übersehen, lässt sich sagen, dass eben auch dieses Symbol Ziel der terroristischen Anschläge von 1993 und 2001 war. Und an jenem 11. September wurde ein vielschichtiges neues Symbol erschaffen, welches wie kaum ein anderes für das Zeitalter der Globalisierung steht. Und für dessen Krise(n).

Amerika, Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch zwischen Luftschlössern und Karriereleitern grenzt ein tiefer Abgrund.

Amerika, Amerika, ach so fern und doch so nah. In diesem Land scheint alles gut und alles schlecht.

1974 greift auch Joseph Beuys dieses Symbol an – indem er es künstlerisch bearbeitet. „Er wählte ein 3-D-Postkartenbild der Türme, das ihre scharfen Kanten weicher erscheinen ließ, und tönte sie gelb, so dass sie wie zwei lange Stücke Butter wirkten […]. Anschließend schrieb Beuys auf die zwei Türme mit blutroter Tinte die Namen »Cosmos« und »Damian«. Warum?“ (Levi Strauss, ebd.) David Levi Strauss erläutert im Folgenden die Geschichte und Symbolkraft der arabischen Zwillingsbrüder und Wunderheiler. Er eröffnet Assoziationen zu Wunden und Krieg, zu Religionen im Konflikt, aber vor allem zur – auch präventiven – Heilung. Aus einer Post-9/11-Perspektive kann all dies geradezu prophetisch erscheinen.

Für mich stellte sich auch sofort die Frage, ob ich überhaupt auf die Postkarte malen darf, sie verändern sollte, da es sich hier um ein so sensibles Thema handelt. Die Verbindung der USA mit 9/11 lässt mich an die extreme Sicherheitsmauer denken, die die USA aufgebaut haben als Reaktion auf diesen Anschlag.

2020 hat das Symbol immer noch eine erstaunliche Wirkmacht. Trotz und gerade wegen der physischen Abwesenheit der Zwillingstürme, ersetzt durch gigantische Brunnen, Flutlichter und einen neuen Turm. Wie decodieren wir heute dieses Symbol? Welche Assoziationen haben wir? Was ist mit unserer heutigen Krise? Studierende wurden aufgefordert, künstlerisch auf eine Postkarte aus den 1970er Jahren zu reagieren, die das World Trade Center in seiner „ganzen Majestät“ zeigt. Frei von 9/11? Wie reagieren? Und: Warum?

Teilnehmer*innen des Seminars:

Esther Bonkowski, Katja Böning, Julia Börger, Adella Gergely, Melissa Kaiser, Carla Klöpper, Katharina Köster, Büsra Koc, Franziska Langenströer, Marietta Mann, Roxanne Mettner, Lys Niggenaber, Marleen Plattfaut, Lena Wüllner.

Tim Pickartz