Ästhetische Forschung des Urbanen

Dieser Beitrag reflektiert eine Exkursion mit Studierenden der Fächer Kunst und Musik nach New York. Ausgehend von der Erlebnisqualität einer Reise fragt der Beitrag besonders nach ästhetischen Aneignungsformen von urbanen Räumen im 21. Jahrhundert und zielt damit auf eine (neue) Diskussion zur Künstlerischen Forschung des Urbanen in universitären Lehr- und Lernkontexten. 

Eingebunden in ein interdisziplinäres Lehrsetting (Seminar, Workshop, Exkursion) lag der thematische Fokus der Reise auf »Discover New York«. Der temporäre Aufenthalt im Sommer 2018 in New York im Sinne einer »Entdeckungsreise« zielte auf die Begegnung von Subjekt und Stadt. Allgemein ging es darum, den Stellenwert universitärer Exkursionen als integratives Lehr- und Lernformat zu stärken und als Mikroprojekt im künstlerischen Kanon der Fächer durch Theorie, Praxis und Vermittlung zu grundieren. Intendiert war, in, im und durch das »Kraftfeld Stadt« Aktionspotenziale zu entdecken und die dynamischen, urbanen Strukturen im Modus kreativer Bewegungen zu organisieren lernen.

Abb. 1: Anflug auf NYC (Foto: Sabiene Autsch)

Stadt als Handlungsraum

Doch wodurch ist Stadt im 21. Jahrhundert überhaupt gekennzeichnet? Und was heißt »Entdeckungsreise«? Was in einer Zeit entdecken, die durch globale Vernetzung und soziale Mobilität, durch technische und ökonomische Beschleunigungsprozesse gekennzeichnet ist und dadurch das Initiieren von ästhetischer Erfahrung sehr schwierig macht? Eine Gegenwart, in der alles sichtbar und verfügbar ist, gesehen und entdeckt worden zu sein scheint? In der Andersheit, Vielfalt und Mehrdeutigkeit durch routinierte Verhaltensweisen und simulierte Bildwelten abgelöst werden, woraus »farblose Reflexivität« und »taktile Manipulation« resultieren? (Vgl. Marcus Quent (Hg.): Absolute Gegenwart. Berlin: Merve 2016) Diese nur knapp angerissenen Fragen und Überlegungen problematisieren die mit der Exkursion intendierte Verschaltung von Subjekt und Stadt im Sinne einer ästhetischen Erfahrungserweiterung.

New York ist Global City, Megacity und Mediencity: Keine andere Stadt wie New York ist durch Film, Werbung, Literatur in ganz besonderer Weise geprägt und vermittelt worden, so dass sie auch für jemandem, der noch nie dort gewesen ist, daher stets vertraut und bekannt erscheint. New York steht zugleich aber auch für Urbanität, für ein »vitales, urbanes Geflecht« (Klaus Selle & Georg Aerni (Fotos): Sondierungen zur Urbanität. Zu den Bedeutungsfacetten eines viel gebrauchten Wortes. In: Kunstforum International, Bd. 218, (2012), S. 50-69, hier S. 59.), d. h. für offene Räume, vernetzte Freiräume, kulturelle Angebote und gemischte Quartiere. Kennzeichnend dafür sind Verschiebungen und eine Vielzahl an immer neuen, heterogenen Lebensstilen und Lebensentwürfen, die das konfliktreiche, zugleich produktiv-hybride Potenzial der Megacity mit begünstigen und plurale Identitäten hervorbringen. »Urbane Welten fungieren für zeitgenössische Kunst wie inhaltsreiche Nährbecken.« (P. Bianchi, 2012, S. 46ff).

Abb. 2: New Museum of Contemporary Art, Bowery/New York (2018), Fotografie: S. A.

Was also in einer Gegenwart entdecken, in der Aneignung »schon lange den Weg freigemacht hat für die unsagbare Banalität des ‚Allzeit bereit‘« (Mark Fischer: Touchscreen Capture – Kommunikativer Kapitalismus und Pseudo-Gegenwart. In: M. Quent, Absolute Gegenwart, 2016, S. 54-74, hier S. 71) und: wie und mit welchen Mitteln den urbanen Raum erforschen, der sich zunehmend ins Performative und Beziehungslose verflüchtigt?

Stadt ist öffentlicher Raum. Stets Knotenpunkt immens heterogener Einflüsse, konfliktreicher Interessen und produktiver Störungen. Und so immer auch Handlungsraum. Nie starre Struktur oder abgeschlossenes System. Stadt als öffentlicher Handlungsraum eröffnet eine unbegrenzte Vielzahl an »Angeboten zur Entscheidung« und ermöglicht soziale und kulturelle Teilhabe. Stadt ist, wie es der Kunstkritiker und Kurator Paolo Bianchi formuliert, zugleich immer auch »gelebte Realität« ihrer Bewohner und durch Geschichte und Geschichten, Kulturen und Objekte, Mentalitäten und Stile usw. »gemacht« (Paolo Bianchi, Der urbane Blick auf das ‚Lebenskunstwerk Stadt‘. In: Kunstforum International, Bd. 218, (2012), S. 33-47).

Abb. 3: Straßenkreuzung in Queens (2018), Fotografie: S. A.

Öffentliche Räume können als relationale Ordnungen verstanden werden und gewinnen in dieser Relationalität an Sicht- und Darstellbarkeit. In der Anordnung von Dingen, Materialien, Architekturen, die zugleich mehrdeutig, vielgesetzlich, aber auch vorläufig sind, artikuliert sich die »Stadt als Kunstwerk« (Paolo Bianchi: Die Stadt als Bühne für Sinnestäuschungen, (2013), s. unter http://www.stuttgarter-nachrichten.de). Stadt als urbaner Raum ist gleichermaßen Lebens-, Arbeits- und Wohnraum, nie statischer Ort, sondern vielmehr ein Gefüge mit wechselnden Schwerpunkten (P. Bianchi, 2012, S. 47). Die durch Globalisierung und Digitalisierung hervorgerufenen Pluralisierungen und Diversitäten, Verdichtungen und Vernetzungen fordern dabei, und das sollte eingangs skizzenhaft verdeutlicht werden, besonders die Wahrnehmungs-, Handlungs- und Strategiefähigkeiten seiner BewohnerInnen und BesucherInnen immens heraus, worüber sich m. E. zugleich vielfältige Möglichkeiten von ästhetisch grundierten Bildungsprozessen initiieren lassen. Der urbane öffentliche Raum erhält aus der Perspektive als Handlungs- und Erfahrungsraum zugleich seine für diesen Zusammenhang relevante Funktion als multisensorischer Bildungs- und Lernort.

New York als Material

Eine Vielzahl künstlerischer Aktionen haben sich besonders seit Ende der 1960er Jahre immer auch mit dem Stadtraum auseinandergesetzt, griffen wie u. a. der Künstler Joseph Beuys mit seiner Aktion »7000 Eichen« anlässlich der Documenta 7 (1982) gezielt in das Gefüge der Stadt ein und zielten so auf (Wieder-)Aneignung von städtischem Raum. Andere KünstlerInnen und Kollektive entwickelten und entwickeln temporäre soziale Projekte, um eine grundlegende Bewusstseinssensibilisierung für die Nutzung, Benutzung und damit für die aktive Mitgestaltung des urbanen Raums zu erzielen.

Abb. 4: Farragut Houses. Community in NYC. (2018), Fotografie: S. A.

Aber auch aktuelle Bemühungen einer integralen Stadtplanung und -kultur sind in diesem Zusammenhang erwähnenswert, die beabsichtigen, dass Bild von Stadt und die Figur des Städters in ein sich gegenseitig durchdringendes Wechselverhältnis zu bringen. Durch verstärkte Selbstorganisation und emotionales Affiziertsein z.B. durch Urban Gardening zielen diese teils institutionalisierten Bemühungen auf eine nachhaltige ästhetische Haltung ab, durch die »neue Möglichkeiten der der Daseinsgestaltung im Lebensraum Stadt [ausprobiert werden sollen, S.A.], wie z. B. im Urban Farming, Urban Gardening oder Urban Knitting. Diese ästhetische Haltung im Urbanitätsdiskurs setzt auf die Freisetzung von kreativer Energie, Lust, Kraft und Ohnmacht, um sich selbst zu formen und zu transformieren. Es aktivieren sich Spielregeln einer individuellen, einer kritischen Freiheit (…), die substanziell und gezielt auf die offenen Lebensformen der Städte zugreifen.« (Paolo Bianchi, 2012, S. 43)

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind vor allem aber künstlerische Praktiken und aktivistische Projekte von Mapping und Kartografie der 1960er bis 1980er-Jahre. Diese zielten darauf ab, durch individuelle Eintragungen und Überschreibungen von Karten und Plänen die rational und übersichtlich erscheinende Stadt-Realität zu verwischen und eigene Darstellungsformen von urbanem Raum zu entwickeln.

Das künstlerische Mapping ist Methode, Technik der Analyse und strategische Repräsentation, die sich gegen dominante Setzungen und Ordnungen richtet. Gegenstand und Material sind Karten, Aufzeichnungen, Dokumente des urbanen Raums. Die kontinuierliche künstlerische Arbeit an der Anordnung von Informationen z. B. auf Karten durch ein neues Ins-Verhältnis-Setzen ermöglicht andere Formen der Vergegenwärtigung von Ereignissen und Zusammenhängen. Durch die mit Mapping verbundenen überwiegend improvisierten, suchenden und beobachtenden Verfahren können zugleich bestehende (urbane) Strukturen in ihrer Bedeutung entschlüsselt werden. Künstlerische Darstellungsformen von Mapping artikulieren sich in Reihungen, Schichtungen, Vernetzungen, Kategorisierungen, Gewichtungen.

Abb. 5: o.T. /Serie, Graphit- und Filzschreiber/Pappe, (2018), Maße variabel. Zeichnungen: S.A.

Als Prozesse der Wissensproduktion in Kooperation zwischen Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen ermöglichen Mappings auch die gemeinsame Aushandlung von Begriffen, Bildern, Bezeichnungen und Bedeutungen. Dabei entsteht eine Art Koordinatensystem, an dem sich immer auch (zukünftiges) Handeln orientieren kann. (s. auch unter http://www.master-kunst-luzern.ch/2014/03/der-kartographierte-oeffentliche-raum-kuenstlerisches-mapping-als-strategie-zur-repraesentation-sozialer-und-politischer-prozesse-von-peter-spillmann/).

Wichtige Impulse für die Entwicklung eines künstlerisch-forschenden, d. h. fragenden Verständnisses von der Gegenwart des urbanen Raums lieferten Ansätze aus der Artistic Research, die im Rahmen des interdisziplinären Lehrsettings aufgegriffen, exemplarisch vorbereitet und dann in New York erprobt wurden. Künstlerische Forschung findet sich in einer Vielzahl neuer Formen der künstlerischen Arbeit in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wieder. Sie ist transdisziplinär und prozesshaft, stellt Bezüge zwischen unterschiedlichen Disziplinen, Systemen und Öffentlichkeiten her und erweitert auf diese Weise gegebene Wissensbestände. Stadt als Handlungsraum lädt in dieser Weise dazu ein, gemeinsam in ihm zu sein und so Forschungsprozesse zu entwickeln und zu teilen. Auf diese Weise kann zum anderen ein weites Spektrum an Handlungsweisen und Praktiken, die aus anderen Wissensbereichen vertraut sind, wie u. a.

  • Recherchieren
  • Explorieren
  • Sammeln
  • Archivieren
  • Reflektieren
  • Kartografie, Feldforschung, Mapping

angewendet, genutzt, kritisch hinterfragt und immer auch verworfen, aber auch experimentell und materialbezogen erprobt werden. Denn: Wie begegne ich einer Stadt wie New York, heißt auch, wie bewege ich mich in ihr: Was weiß ich von ihr, wie komme ich an, welche Wege nehme ich, was bedeuten die Zeichen?

Abb. 6: No Standing. Anytime, Serie mehrteilig, Digital Prints (2018), Fotografie: S. A.

In ihrer überwältigenden Materialität erscheint New York als eine unüberschaubare Welt zahlloser Dinge. Alles erfassen zu wollen, ist geradezu unmöglich. Doch wie umgehen mit der urbanen Fliehkraft und Flüchtigkeit, mit dem Flair und der Atmosphäre? Wie sich auf den Rhythmus von Stadt einlassen, welche Perspektive einnehmen, etwa als Betrachter mit Blick von oben auf die Stadt, oder im Gehen als Flaneur, Passant oder Spaziergänger mittendrin und von unten? Was erzählen, wenn Stadt kein Zustand, sondern Ereignis ist?

Keine Frage: Die Stadt verlangt eine Haltung zu ihr und offenbar benötigen wir Handlungsanweisungen im ästhetischen Umgang mit und in ihr: Offen und aufmerksam zu sein für das Unerwartete, noch nicht Gesehene und Gedeutete, zugleich die komplexe Wahrnehmung des Unbekannten produktiv umwandeln lernen in Genuss, Orientierung und Kreativität.  

Das Lesen der Stadt – Künstlerische Forschung

Künstlerische Praxisformen wie Mapping, Kartografie oder Feldforschung liefern Impulse für einen erfahrungsorientierten Umgang mit Stadt, den wir zwischen Theorie und Praxis als einen transdisziplinären Bewegungsmodus zur Wissensproduktion erarbeiteten. Als sehr produktiv für die Modellierung und konkretere Umsetzung haben sich neben den o.g. diskursiven Bausteinen auch Textlektüren zur Künstlerischen Forschung erwiesen. Diese hoben den Schnittstellencharakter Künstlerischer Forschung noch einmal ins Bewusstsein und trugen dazu bei,

  • Praxisorientierung
  • Prozesshaftigkeit
  • Experimentelles

als Material der eigenen Künstlerischen Forschung zu begreifen und so die Teilung zwischen „Kunst machen“ und „Bedeutung schaffen“ aufzugeben.

An dieser Stelle kommt der Stadtspaziergang ins Spiel, der im Beitrag von Tim Pickartz eingehender erörtert wird und die eigene Ästhetische Forschung um eine wichtige kulturelle Praxisform erweitert hat. Für diesen Zusammenhang soll der Hinweis auf das Gehen als eine grundsätzlich dynamische Bewusstseinseinstellung genügen, das besonders in künstlerischen Vermittlungskontexten der vergangenen Jahre eine enorme Bedeutung erfahren hat. Das Gehen als kulturelle Praxis im unbekannten urbanen Raum trägt nicht nur zur Wahrnehmungssensibilisierung bei, sondern stärkt die Kompetenz des Verknüpfens und das Vermögen, Zusammenhänge eigenständig zu erkennen. Zugleich kann das Gehen das Bewusstsein für die Grenzen der eigenen Bewegung im Bewegungsraum der Stadt entwickeln, für das Formate gefunden werden müssen, die sich gegen jede Form von Ab- und Ausschluss, von Fixierung und Bestimmtheit wenden (vgl. hierzu ausführlicher Sabiene Autsch: »Durch Manhattan«. Die Stadt als Bewegungsraum. In: Claudia Öhlschläger (Hg.): Urbane Kulturen. Bielefeld: Transcript, 2020, S. 35-57).

Die Künstlerischen Forschungen der Studierenden spiegeln diese Impulse, Einflüsse und Tendenzen ganz unterschiedlich wider. In der Serie »NY Subway« greift Julia Theis den New Yorker Subwayplan als visuelle Matrix für ihre künstlerische Arbeit auf. Die MTA New York City Subway wurde 1904 eröffnet und zählt zu den ältesten U-Bahn-Netzen der Welt. Sie entspricht einem mehrfachen Achsennetz, dessen einzelne Streckenäste sich wiederum teilweise mehrfach kreuzen, letztlich aber eine einfache Struktur und Ordnung und somit Orientierung begründen (s. auch http://www.nycsubway.org). Jährlich werden über 1,5 Milliarden Fahrgäste transportiert, das sind mehr als 4,9 Millionen an einem durchschnittlichen Werktag (Zahlen von 2006, wikipedia.org). Die Subway als Untergrund- oder auch »Schnellbahn« ermöglicht die motorisierte Fortbewegung durch New York, überwiegend unter dem Stadtzentrum.

Abb. 7: Julia Theis, NY Subway, 4, 7, 6 (2018), Druckgrafik, Digitaldruck, weißes Papier, 29,7 x 42 cm

Das Interesse von Julia Theis aber gilt nicht ausschließlich der Subway als Transportvehikel, die den Reisenden zügig durch die Megacity von A nach B bringt. Vielmehr sind es die damit verbundenen Aktivitäten des Gehens, Stehens, Fahrens, Wartens und wieder Stehenbleibens, die eine eigene subjektive Kartografie hervorbringt. Der so entstandene „Plan“ von Julia Theis wird zu einem Narrativ erweitert und erzählt von dieser Bewegung; ehemals orientierende Zeichen und Markierungen wie Linien oder Haltestellen sind in ihrem Plan gelöscht, oder geschwärzt, der Informationsgehalt wird durch technische Verfahren des Überdruckens noch einmal abstrahiert. Der lesbare Plan zur Orientierung verliert seine ursprüngliche Funktion. Die reduzierten feinen Linien umschreiben nun eine Figur, auf die sich das Auge des Betrachters in Ruhe einlassen kann. Die großzügigen dunklen Flächen, die entweder Innen- oder Außenraum bilden, bieten sich als Projektionsflächen an: So rufen sie die Markierungen und Zeichen des ursprünglichen Subwayplans auf, gleichzeitig setzen sie Gedächtnisbilder des Betrachters frei, die von den grafischen Linien wie Spuren gelegt werden, die verfolgt werden können, sich zu neuen Informationen einschreiben. Der Plan der New Yorker Subway transformiert in einen aus vielen Schichten bestehenden mehrdimensionalen Bildraum, in dem sich Praktiken des Löschens und Überschreibens, des Sammelns, Archivierens und Verlierens treffen und in dieser Weise an ein Palimpsest erinnern.

Joana Dahlhoffs entwickelte Collagestrecken sind hier anschlussfähig; auch ihre künstlerisch-forschende Auseinandersetzung mit New York kreist um Fragen des Sammelns und Archivierens. Sie erinnert ebenfalls an eine Spurensuche, die durch die Fragmentarik, d.h. durch das souveräne Ausbalancieren und Komponieren von Formen, Flächen und Farben gelöst wird. Auf diese Weise lässt sie den Betrachter zugleich teilhaben an ihrer Sicht auf die Stadt, an ihrem Umgang mit »persönlichen Mikro-Memories besuchter Orte in New York«, die durch Transparenz und Aussparung noch einmal eine Transzendierung erfahren und sich ins Atmosphärische ausweiten.

Abb. 8: Joana Dahlhoff, Megalomania, Öl, Acryl, Aquarell, Nagellack, Fineliner auf Transparenzpapier (2018), à 95 x 400 cm
Abb. 9: Claudia Nießen, Fotografien (2018)

Die Fotografien von Claudia Nießen und Saskia Holsträter konzentrieren den Blick auf Flüchtiges und erwiesen sich dabei als adäquates Beobachtungs- und Aufzeichnungsmedium für die Eindrücke und Stimmungen des modernen Alltagslebens. Technische Mittel wie Unschärfe, aber auch extreme Nahansichten bewirken jene flächenbezogene Anbindung der Figuren, wodurch subjektive Erfahrbarkeit und »objektives Sehen« zunehmend oszillieren und so zur Überprüfung und Neuorganisation des Wahrnehmungsfeldes auffordern.

Abb. 10: Saskia Holsträter, Hochdruck (2018)
Abb. 11: Daniel Stanikowski, Hochdruck (2018)

Demgegenüber ist es immer wieder das Raster, durch das die urbane Struktur und Architektur von New York in besonderer Weise geprägt ist und vielfältige Impulse für eine künstlerische Forschungsarbeit lieferte. Insbesondere die Dimension der Wolkenkratzer und die Organisation im Bild haben vielfach zu experimentellen Arbeitsweisen in unterschiedlichen Medien und Gattungen motiviert. Ist es in Abb. 10 die Übersetzung des fotografischen Motivs in den Hochdruck, wodurch Geometrie und Genauigkeit gleichsam unterlaufen werden und malerische Effekte das Raster und somit die Stabilität der Gebäude zu zerstören beginnen, versucht Daniel Stanikowski in seiner Hochdruck-Serie genau gegen diesen Eindruck anzuarbeiten (s. Abb. 11). Während sich im fotografierten Raster der urbane Raum im Mikro-Makro ausformuliert, schaffen die Übersetzungen neue Zusammenhänge und Ordnungen und geben darüber auch dem Abweichenden einen Raum.

Stadt ist stets »gelebte Realität«, geprägt und geformt durch Wahrnehmungsdispositive und Handlungsfähigkeiten von Subjekten, von Bewohnern und Reisenden und sich so in Architekturen, Dingen und Oberflächen ebenso wie in Atmosphären, Symbolen, Texturen und Zeichen materialisiert. Das bedeutet, dass der urbane Raum nie in seiner Ganzheit und Vollständigkeit erfasst und erforscht werden kann. Vielmehr ist es die Mikrologie urbaner Räume, Menschen und Dinge, ihre Geräusche, Gerüche und Atmosphären, aber auch Geschichten, Szenen des Augenblicks, spontane Eindrücke und Erinnerungen, die wir im Gehen, also aus einer Bewegung heraus, entdecken und die so zum Material einer Künstlerischen Forschung des Urbanen werden. Die ausgewählten Beispiele aus größeren Serien zeigen, dass der Umgang mit dem Stadtmaterial ebenso entscheidend ist: Dazu gehört neben der genannten Tätigkeit des Gehens insbesondere auch eine zu leistende Arbeit mit dem Erlebten, d. h. mit der generierten Datenmenge der Stadtrealität umzugehen, wozu u. a. Sammeln, Aufzeichnen, Übersetzen, Entziffern, Ordnen und Anordnen gehören. Vor diesem Hintergrund kann die Reise nach New York im Format der Exkursion als künstlerischer Forschungsprozess verstanden werden, der im Modus unterschiedlicher physischer und psychischer, kognitiver und sinnlicher Bewegungen initiiert worden ist und die Studierenden für ein weites Spektrum an wissenschaftlichen, künstlerischen und alltäglichen Handlungsweisen sensibilisiert hat.

Das Neue und Unbekannte ist demzufolge weniger die Megacity, sondern die Entdeckung eigener, vertrauter Praxisformen, die im Umgang mit dem urbanen Raum (neu) generiert werden und so eine »Problemsensitivität« begründen helfen. Darunter versteht Christina Inthoff eine besondere Kompetenz, die in der Aufmerksamkeit für kleine Dinge, für Alltägliches, Momenthaftes begründet liegt. Das heißt, Dinge zu entdecken, ohne sie zu suchen, und »sich suchend mit der Welt auseinanderzusetzen, ohne etwas Bestimmtes finden zu müssen.« (Christina Inthoff, Von der Idee Erwartungshorizonte auf den Kopf zu stellen. Problemsensitivität in reflexiven Aufzeichnungspraxen entwickeln. In: Johannes M. Hedinger/Torsten Meyer (Hg.): What‘s Next? Kunst nach der Krise, Berlin: Kadmos 2013, S. 139-141, hier S. 139)

Sabiene Autsch