Ausgetretene Pfade? Audio-visuelle Anweisungen und bewusste Zuwiderhandlungen

Schließen Sie bitte die Augen! Ich warte so lange auf Sie. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Obwohl man intuitiv annehmen möchte, dass das Medium Text ein solches Vorgehen nicht begünstige, wartet Text tatsächlich, bis er weitergelesen und dadurch aktualisiert wird. Weder verpassen Sie etwas, noch drängt er sich auf, während Sie die Augen geschlossen haben und – was eigentlich tun? Achten Sie mehr auf ihre übrigen Sinne? Was hören Sie? In welchem Zusammenhang steht der Moment, in dem Sie diese Frage lesen, zu der Zeit, die Sie die Augen geschlossen halten? Haben Sie darüber nachgedacht, warum Sie die Augen schließen sollten? Haben Sie es überhaupt getan? Für wie lange?

In Vermittlungssituationen, insbesondere dem Ausstellungsrundgang, werden häufig Anweisungen formuliert. Diese organisieren die Gruppe (»Achten Sie auf die Stufe!«), strukturieren die Situation und damit die Bedeutung des Wahrgenommenen (»Folgen Sie mir hier entlang!«, »Schauen Sie dort hinüber!«) oder sind didaktischer Natur (»Schließen Sie bitte die Augen!«). Mitunter sind Anweisungen weniger offensichtlich, aber dadurch kaum weniger wirkmächtig: Eine Bildbeschreibung beispielsweise konzentriert nicht nur sich, sondern dadurch gleichzeitig ihre Zuhörerinnen und Zuhörer auf ein bestimmtes Detail. Solche Vorgaben können unter anderem als Sprechakte erfolgen, als (Zeige-)Gesten oder durch mannigfaltige Aktanten, die auf unser Körperwissen zurückgreifen. 

Möchten Sie noch einmal die Augen schließen? Diesem und jedem der folgenden Textabschnitte ist eine Soundscape beigefügt, die an unterschiedlichen Orten in New York aufgenommen wurden. Es steht Ihnen frei, diese getrennt oder parallel mit dem Text zu rezipieren – oder sie natürlich auch völlig zu ignorieren. 

In welchem Zusammenhang stehen auditive Reize und Anordnungen? Hier spielt sicherlich die Sprache eine übergeordnete Rolle. Im Dialog mit Besucherinnen und Besuchern kann nicht nur das eigene Anweisen moduliert, sondern auch auf deren Verhalten reagiert werden: Die Nicht-Einhaltung von Regeln wird gerügt, Routen auf die oder sogar mit der Gruppe abgestimmt und Strukturen miteinander diskutiert. Insbesondere didaktische Anweisungen scheinen nur in einem solchen Dialog ihr Potential zu entfalten, in dem wir (gemeinsam) über das sprechen (oder anderweitig reflektieren), was die Situation mit uns und unserer Wahrnehmung gemacht hat. Aber was ist mit nicht-sprachlichen Reizen: Geräuschen, Melodien oder Monologen, die zwar Sprache sind, aber keine direkte Interaktion zuzulassen scheinen? Hier beginnt mein Nachdenken über künstlerische und/oder vermittlerische Konzepte, die ebenfalls Anweisungen formulieren, aber zunächst nicht in einen Dialog mit dem Gegenüber zu treten scheinen: Audio-Guides, bzw. (smarte) Multimedia-Guides.

Damit ist ein Hauptaspekt meiner Skepsis gegenüber solchen Formaten bereits benannt. Diese Guides erscheinen mir häufig als Kompromiss zwischen einem geführten Rundgang und dem Ausstellungskatalog ohne nennenswerte eigene Qualitäten bei Verlust einer zwischenmenschlichen Interaktion. Aus dieser Skepsis erwächst aber schließlich eine Neugierde: Können solche Guides dennoch mehr leisten als affirmative Wissensvermittlung? Können Sie nicht nur Alternativen anbieten, sondern dazu motivieren, in Alternativen zu denken? Können Sie die Emotionen, Gedanken und Erzeugnisse ihrer Nutzerinnen und Nutzer sammeln, bewahren und weitervermitteln? Spätestens seit dem Web 2.0 und den damit einhergehenden technischen Entwicklungen ist die Antwort: Ja, können sie. Ich möchte anhand einiger exemplarischer Situationen darüber nachdenken, was passiert, wenn ich mich in (Vermittlungs-)Situationen begebe und darin auf unterschiedliche Weise agiere. Dabei konzentriere ich mich im Folgenden vor allem auf Bewegung (als Choreografie) und das Zuhören (in Abgrenzung zum in Ausstellungen in der Regel dominanten Ansehen). Übrigens: Welche Anweisungen haben Sie in der Soundscape wahrgenommen? Haben Sie sie befolgt? Welches Bild haben Sie vom Madison Square vermittelt bekommen? Haben Sie sich bewegt?

Guggenheim: You Spin Me Round (Like A Record)

Der kühn geschwungene Baukörper des Guggenheim Museums gehört wohl zu den bekanntesten Architekturen in New York und ist sicherlich auch in globaler Perspektive eine ikonische Ausstellungsarchitektur. Betritt man die Eingangshalle wird man geradezu körperlich erfasst von einem Strudel aus weißem Beton und schattigen Zwischenräumen, der kaum zuzulassen scheint, dass man den Blick von ihm löst. Kann man in einem solch präsenten Raum Kunst betrachten? Was kann man hier überhaupt tun?

Architekturen und die Anordnungen von Objekten darin als Konstellationen im Raum eröffnen eine (wenn auch nicht unbegrenzte) Vielfalt von Handlungsoptionen. Kirsten Maar spricht von choreografischen ‚An-Ordnungen‘ und verbindet so die Konnotationen von Ordnung als Organisation und Anordnung als Handlungsanweisung oder sogar Befehl (engl. ‚order‘). Es wird deutlich, dass trotz der subjektiven Freiheit der Bewegungen der Besucherinnen und Besucher bereits ein räumlicher Text, eine ‚Vor-Schrift‘, gegeben ist, der diese Bewegungen antizipiert, organisiert und harmonisiert, d.h. choreografiert.1  Susanne Foellmer beschreibt solche räumlichen Situationen als „Stilleben variierender Konstellationen“2, welche die Bewegungen des Publikums bestimmten. Im Guggenheim scheinen diese verhältnismäßig begrenzt, fordert die Architektur doch einen konzentrisch-linearen Nachvollzug von einer Viertelmeile Länge. Andererseits: Zumindest Mathew Barney schafft es, diese zu kreuzen oder zu durchbrechen, indem er von außen die Balkone beklettert.

Solche An-Ordnungen können als Vermittlungsobjekte verstanden werden, die sich nicht in der Speicherung und Weitergabe von Informationen erschöpfen, sondern selbst prozesshaft strukturiert sind und Bewegungen aktivieren. Es wird also die These vertreten, dass körperlicher Nachvollzug ein anderes Vermittlungs- und Verständnispotential hat, als rein visueller. Da eine choreografische An-Ordnung zwischen „(Auf-)Zeichnung als Dokumentation und Konzeption — als Entwurf — schwankt, markiert sie selbstreflexiv ihre relationale Position zwischen Werk und Performance, zwischen Bild/Text und Körper/Bewegung.“3 Das Potential zur Transformation liegt somit in der Aktualisierung durch die Besucherinnen und Besucher: „In dieser Kopplung von Anweisung und räumlicher Anordnung werden Verhandlungsräume eröffnet, in denen Prozesse ermöglicht werden, die sich im Spannungsfeld von Konzept und Ausführung positionieren lassen.“4 Es stellt sich die Frage, zu welchem Anteil Besucherinnen und Besucher diese Anweisungen (bewusst oder unbewusst) befolgen oder ihre Rolle als interpretierende Ko-Autorinnen bzw. Autoren einnehmen und möglicherweise eine eigenständige Haltung innerhalb der und in Bezug auf die Ausstellung entwickeln. Dazu bedarf es einer Wahrnehmung und Markierung der choreografischen An-Ordnungen, um einer unbewussten Eingliederung und kritiklosen Entsprechung entgegenzuwirken.

Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern die Besucherinnen und Besucher ihre Rolle im System der Choreografie reflektieren und ob diese sich selbst positionieren — hier nach Oliver Marchart als antagonistische Stellungnahme, als bewusstes Einnehmen einer (politischen) Position verstanden. Oliver Marchart zeigt auf, dass Ausstellungen grundsätzlich nicht darauf ausgerichtet sind, Vielstimmigkeit oder echten Diskurs zu produzieren, sondern ihre eigene Position zu vermitteln, ggf. zu reproduzieren und so Besucherinnen und Besucher einzugliedern. Dazu bieten sich Gemeinschaft stiftende Strategien an — dementsprechend versteht er Choreografie als Disziplinierungsmaßnahme: „Nach wie vor geht es um die Disziplinierung des Blicks, aber auch des Sprechens bzw. Zuhörens. Nach wie vor geht es um die Disziplinierung der Gruppe gegenüber dem Objekt […]. Ansonsten droht Chaos, unmoderierte Konversationen könnten ausbrechen, die Blicke könnten ungelenk umherzuwandern beginnen.“5

Um in einer solchen Situation selbstbestimmt oder sogar politisch zu agieren, bedarf es einem Bewusstsein der eigenen Rolle innerhalb der Aktualisierung der Choreografie und das Einnehmen einer Position. Diese macht Oliver Marchart, wie oben angerissen, im Antagonismus aus – so z. B. in Zuwiderhandlung.

Sollen wir jetzt alle wie Mathew Barney die Balkone beklettern? Lieber nicht. Aber es zeigt sich, dass die Kuratorinnen und Kuratoren des Guggenheim selbst der ursprünglich intendierten An-Ordnung zuwiderhandeln: „The ramp is a quarter mile long. [Frank Lloyd] Wright intended for visitors to experience the museum from the top down. Today exhibitions are arranged from the bottom up.“6 Diese Information alleine fordert auf, jede Ausstellung aus mindestens zwei Richtungen zu begehen und zu lesen. Je stärker die An-Ordnung, desto größer darf die Skepsis werden. Um sich schließlich zu fragen: Möchte ich folgen, oder Alternativen explorieren?

Haben Sie die Soundscape angehört? Welche Wege habe ich durchs Guggenheim genommen? Konnten Sie mir folgen? Welche Aspekte haben meine oder ihre Aufmerksamkeit erregt? Wie fanden Sie die dort ausgestellte Skulpturen von Alberto Giacometti?

Central Park: Her Long Black Hair

2004 haben Janet Cardiff und George Bures Miller einen durch einige Fotografien unterstützten Audio-Walk für den Central Park entwickelt. In „Her Long Black Hair“ folgen Zuhörerinnen und Zuhörer der Stimme und den Schritten Janets (als die von Janet Cardiff gesprochene aber von der realen Person verschiedenen Figur in den Walks) auf den Spuren einer anderen, namenlosen Frau mit dunklem Haar durch den Park. Da man von Janet direkt angesprochen und zu Handlungen aufgefordert wird, positioniert man sich selbst nicht bloß als abstrakte Hör-Instanz, sondern fühlt sich gleichzeitig als Teil des Wahrgenommenen. Dazu den Weg des Auditiven zu nutzen, scheint eine erfolgreiche Strategie zu sein, wie Pamela Scorzin herausstellt: „die Augen vor einer Inszenierung oder Szenographie kann man schließlich leicht verschließen, die Ohren aber umso viel schwerer. Tatsächlich beginnen die Ohren nun auch zu sehen.“7 So beginnt man, auf den Spuren der Unbekannten wandelnd, den einen Raum zu durchschreiten, während man gleichzeitig zwei sich ähnelnde Räume auditiv wahrnimmt, diese sich überlagern und durchmischen. Dieser Modus der Wahrnehmung wirkt gespenstisch. Bild und Ton werden zu Wiedergängern, Gespenstern — ebenso wie man selbst die zuvor von Janet abgegangenen Wege wieder geht. Auch Stuart Horoder stellt fest: „Walking with her (via audio) is like walking with a ghost.“8

Hört man sich „Her Long Black Hair“ losgelöst vom Ort an oder entschließt man sich dort, diesen nicht zu aktualisieren, z.B. indem man sich einen stillen Sitzplatz sucht, wird das Werk selbst gar nicht erst konstituiert. Sie können das direkt überprüfen: Sound und Bilder sind hier (LINK: https://phiffer.org/hlbh/) abrufbar. Was passiert mit dem Ort, an dem Sie gerade diesen Text lesen? Möchten Sie sich vielleicht in einen lokalen Park begeben? „Der Rezipient ist kein Betrachter oder Zuschauer, der ein künstlerisches Artefakt oder eine Aufführung aus sicherer Distanz betrachtet, vielmehr bringt er den künstlerischen Prozess, durch seine physische Partizipation, überhaupt erst hervor.“9 Obwohl die Tonspur des Audio-Walk unveränderlich und wiederholbar ist, ist es die entstandene Beziehung zwischen Subjekt, Raum und Artefakt, die das Kunstwerk in der Relation erst konstituiert.

Abb. 1: Her long black Hair
Abb. 2: His short brown hair

Man sollte deshalb bei solchen Arbeiten nicht mehr bloß von Rezipierenden, sondern von Teilnehmenden sprechen oder den für diesen Wechsel des Konsumierenden zum Co-Produzierenden noch stärkeren Begriff des Prosumers nutzen. Oder ist dies ein Euphemismus? Handelt es sich nicht eher um einem Scripted Space (also einen choreografierten Bewegungsraum voller An-Ordnungen), der seine machtvolle Autorität und seine manipulativen Tendenzen hinter interaktiven Special Effects verbirgt? Wir sind dazu aufgefordert, mitzumachen, und nicht dazu, neue Choreografien zu entwickeln. Das Ergebnis dieser scheint stets unausweichlich, dennoch ermöglicht es die physische Involviertheit, das Dargestellte erlebbar und mitfühlbar zu machen — sich in Relation zu setzen.

Abgesehen davon, dass der Betrachter zeitlich versetzt den Spuren von Janet folgt, verfolgen sich auch die Betrachter untereinander und bilden dadurch mitunter ein choreographisch beschreibbares Ensemble. Bei längerer Beobachtung verfestigt sich dieses zu einer Choreografie mit festen Regeln, die Ralph Fischer als „chronotopischen Text, der […] über Kopfhörer diktiert wird“10 bezeichnet. Besonders deutlich wird dies innerhalb der abschließenden Sequenz: Janet führt zu einer Uferböschung abseits der Hauptwege nahe der Bow Bridge mit Blick auf das Dakota-Hotel. Hier wird die Bewegung abgebrochen und schließlich wird man von Janet vor Ort allein zurückgelassen. Von außen betrachtet sieht man etliche Personen, die in dieselbe Richtung schauen und doch völlig isoliert sind. Sie wirken selbst gespenstisch und beobachten etwas, das für Unbeteiligte unsichtbar bleibt. Schließlich lösen sie sich aus der kollektivierten Haltung und ziehen wieder ihrer eigenen Wege.

Was sind das für eigene Wege? Was ist mit denjenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die sich im Park verlaufen, zwischenzeitlich eine Toilette aufsuchen oder den Walk frühzeitig beenden (all dies ist bei unserem Besuch des Central Park durchgeführt worden)? Was ist mit Ihnen? Haben Sie sich „Her Long Black Hair“ angehört? Oder die von mir zur Verfügung gestellte Soundscape? Was macht es mit Ihnen, wenn ich nun eröffne, dass diese nicht aus dem Central Park stammt? Wo sind Sie, wo waren Sie? Möchten Sie eine Soundscape des Central Park? Was macht es für einen Unterschied?

Broadway & Museum of Modern Art: Too Many Layers

Doch gehen wir noch mal einige Schritte zurück. New York ist nicht Manhattan und doch prägt Manhattan das kollektive Bild von New York. Beim Landeanflug erahne ich die Skyline, suche nach bekannten Strukturen. Das erste Mal betrete ich Manhattan von unten: Die Subway bringt uns aus Brooklyn zur Station Broadway-Lafayette St. die Mel Chin 1993 als Teil seiner Arbeit »Signal« auf spezielle Art und Weise gestaltete: Die weiß-blauen Wandfliesen verweisen auf die niederländischen Kolonisten, die die hügelige Insel »Manna-hatta« von den Native Americans kauften und dort die Siedlung Nieuw Amsterdam errichteten. Diese Fliesen zeigen allerdings keine für die Niederlande typischen Motive, sondern sind in Mustern angelegt, die an die Kunst der indigenen Völker angelehnt sind. Mel Chin möchte darauf hinweisen, wie bestehende Systeme okkupiert werden, aber eben auch subversiv weiter bestehen und wirken können. Und er weist auf ein Beispiel hin, das sich nicht nur in direkter Nähe befindet, sondern auch trotz seiner extremen Sichtbarkeit, kaum als subversives System gelesen wird: Der Broadway. Diese Diagonale, die quer durch das Gitternetz der Straßen Manhattans verläuft und ihr System gewissermaßen unterläuft, geht zurück auf einen bereits vor der Ankunft der Europäer etablierten Pfad der Native Americans.

Hier treffen also in der Tat zwei unterschiedlich gedachte Räume direkt aufeinander. Es wird deutlich, dass man zwar wählen kann, mit welcher der beiden Logiken man Manhattan durchquert, aber nicht ohne weiteres eine völlig davon befreite eigene Logik erschaffen kann. Der aus gebauten An-Ordnungen gebaute Ort ist ebenfalls ein Scripted Space. Die Systeme dieses Ortes lassen sich eigentlich nur von oben aus der Perspektive des »Voyeurs« ausmachen – und es ist sicher kein Zufall, dass Michel de Certeau diesen Begriff mit dem Blick aus dem ehemaligen World Trade Center in New York illustriert. Wir aber sind unten, »Fußgänger«.

Nachdem wir die Subway also verlassen haben, stehen wir mitten in der Stadt. Ohne Übergang oder »Anmarsch« wie Lucius Burckhardt es nennt. Burckhard meint, man könne einen Ort nicht verstehen, ohne einen Anmarsch zu vollziehen. Wer Grenzen und die umgebenden Systeme ausblendet, z.B. weil er mit der Subway an einem Ort auftaucht, sieht die Charakteristika des Ortes (sein »Skript«) nicht. Das klingt nachvollziehbar, aber es stellt sich die Frage, wo anfangen, wenn ich einen Ort begehen möchte? Klar hingegen ist das Ziel unseres ersten Spaziergangs durch Manhattan: wir folgen dem Broadway über einige Kilometer vorbei an touristischen Highlights bis hin zum Times Square, an dem Mel Chin 2018 eine weitere Arbeit installiert hatte.

Kaum ein anderer Ort steht dermaßen für das Zuviel, das New York auszuzeichnen scheint, wie der Times Square. Fast alle Sinne werden hier gereizt und mitunter überreizt. Mel Chin fügt dem Ort mit einer Augmented-Reality-Installation mit dem Titel »Unmoored« noch eine weitere Ebene hinzu. Offen gestanden scheint die Aufmerksamkeitsspanne der Reisegruppe allerdings erschöpft. Betrachtet überhaupt jemand das Kunstwerk, dass den Anlass gab sich hier zu treffen? Scheinbar nicht. Stattdessen stellt sich die Gruppe für ein Foto auf. Ist dies etwa eine Verweigerung, gar eine subversive Handlung? Doch die Arbeit von Mel Chin lässt sich nicht so ohne weiteres unterlaufen, sie überlagert stets die Realität, zeigt sich davon gänzlich unbeeindruckt. Aber subversiert sie den sie umgebenden Ort? Oder ist sie nicht auch gebunden an die An-Ordnungen des Digitalen?

Abb. 3: Gruppenfoto mit »Unmoored«

Eine weitere digitale Überlagerung erlebe ich einige Tage später im Museum of Modern Art. Überhaupt ist der Besuch dort mit dem Times Square sehr vergleichbar: Auch hier stets der Superlativ, die Werbetafeln sind durch Kunstwerke ersetzt, die Menschen sind möglicherweise die gleichen. Die Geräuschkulisse ist verschieden, aber nicht weniger präsent.

Seit 2018 nutzt ein Künstlerkollektiv den Jackson Pollock gewidmeten Ausstellungsraum des MoMA als virtuelle Guerilla Gallery unter dem Namen MoMAR. Diese findet ebenfalls ausschließlich im virtuellen Raum bzw. auf dem Handydisplay der Besucherinnen und Besucher statt, orientiert sich aber an den Begebenheiten des gebauten Raumes: Die App nutzt die ausgestellten Werke Pollocks als Marker und überlagert diese mit anderen Werken. Ein Mitglied des Kollektivs stellt heraus: »Es ist doch eigenartig, dass auch Menschen, die das MoMA einfach so besuchen, die Kunst primär durch die Linse ihrer Smartphones erleben, indem sie Selfies machen oder die Werke selbst abfotografieren. Unser AR-Projekt fügt eine weitere Ebene der Digitalisierung hinzu, in dem bereits existierende Kunst gehackt wird, um die Kunst anderer Künstler zu enthüllen.«11 Interessant für mich ist, dass dadurch nicht nur die ursprüngliche Kunst verhüllt wurde, sondern auch die Störungen im Bild – nämlich die anderen Besucherinnen und Besucher.

Abb. 4 – 6: MoMAR

Ähnlich verstehe ich auch die Soundscapes, die diesem Essay hinzugefügt wurden: Obwohl streng linear und im Grunde rein dokumentativ (wenn auch mitnichten nicht objektiv), haben sie das Potential, eine Situation zu hacken. Offensichtlich wird das am Ort ihrer Entstehung, allein durch die Asynchronität der aufgezeichneten und präsenten Geräusche. Versteht man sie als Handlungsanweisungen, versucht man also der dort abgegangenen Route zu folgen, wird aus einer quasi zufälligen Verschiedenheit die schiere Unmöglichkeit, die eigenen Handlungen mit der Vorgabe zu synchronisieren. Aber auch an dem vermutlich von New York verschiedenen Ort, an dem dieser Essay jetzt gelesen wird, konstruiert das Zuhören möglicherweise einen Raum – wie viel dieser mit New York gemein hat, bleibt fraglich. Gleichzeitig hoffe ich, mit diesem Experiment einige Perspektiven eröffnet zu haben, wie man mit (audio-visuellen) An-Ordnungen im Feld der Kunst und Kunstvermittlung umgehen könnte, indem man zuwiderhandelt, sich verweigert oder ihr System gänzlich unterläuft. Bleibt die Frage, ob und wie sich diese Strategien in diejenigen Medien überführen lassen, von denen Nutzerinnen und Nutzer sich Affirmation, Motivation und Orientierung im bestehenden System erhoffen?

Tim Pickartz


Fußnoten

1 Vgl. Maar, Kirsten: Choreografische An-Ordnungen, in: Petra Reichensperger (Hg.): Begriffe des Ausstellens, Berlin 2013, S. 78-83.

2 Foelmer, Susanne: Choreografie des Erzählens, Bemerkungen zu einer neuen Narration im zeitgenössischen Tanz, in: Friederike Lampert (Hg.): Choreografieren reflektieren, Köln/Berlin 2010, S. 57-73, hier: S. 65.

3 G Brandst’tter Hofmann Maar S. 14

4 Maar: Choreografische An-Ordnungen, S. 80.

5 Machart: Hegemonie im Kunstfeld, S. 79.

6 Ausstellungsflyer des Guggenheim, Privatbesitz.

7 Scorzin: Metaszenografie, S. 309.

8 Horodner: Walk Ways, S. 21.

9 Fischer: Walking Artists, S. 254.

10 Ebd. S. 264.

11 https://www.vice.com/en_us/article/8xd3mg/moma-augmented-reality-exhibit-jackson-pollock-were-from-the-internet Übersetzung TP.

Titelbild

Matthew Barney, CREMASTER 3, 2002, video still.