Durch Manhattan (2017) – Stadtbegehung und Stadtbegegnung

Im Buchwerk Durch Manhattan (2017) entwerfen Niklas Maak und Leanne Shapton ein neues Bild der Stadt New York, das eine Konfrontation mit dem Fremden sowie Unerwarteten in einem erschlossenen, urbanen Raum (Manhattan) initiiert. Die Leserin und der Leser begeben sich auf eine »imaginäre Reise«1 durch Manhattan, die eine zentrale Fragestellung verfolgt: »Wie erzählt man von einer Stadt – und was erzählt die Stadt […]?«2

Schon hier offenbart sich die Offenheit des künstlerischen Prozesses. Durchaus kann das Buchwerk als Künstlerbuch, für das noch keine eindeutige Definition vorliegt,3 angesehen werden. Während Niklas Maak kleinere Texte verfasst, die aneinandergereiht den Charakter einer Episodenstruktur entwickeln, fertigt Leanne Shapton abstrakte Aquarellzeichnungen an, die allerdings auch stark figurative Momente aufweisen. So konstruiert das Künstlerkollektiv eine neue Stadtansicht, bei der Text- und Bildseite keiner Hierarchie unterliegen und dieselbe narrative Qualität entfalten. Das Buchwerk entgrenzt die tradierte Buchform und jede Buchseite weist ein individuelles Seitenlayout auf: »Selbstverständlichkeit in den Grenzen, präzise Konturen eines Quaders und einer linearen […] Text-Bild-Sequenz, wird in jedem Fall eines Künstlerbuches disponiert.«4 Nichtsdestotrotz liegt eine enge Verzahnung der Bild-Text-Ebene vor, sodass sich der Band einer klaren Definition oder Gattungszuschreibung entzieht.

Der Stadtraum New York wird als bekannt vorausgesetzt: »Fast alles, was unsere Zeit prägt, passiert in Manhattan oder bildet sich dort ab«.5 Allerdings wird eine starke Fokussierung auf den Stadtteil Manhattans vorgenommen. Als Hilfsmittel zur Stadterschließung dient dabei ein Stadtplan6, auf dem das Künstlerkollektiv eine Linie einzeichnet, um dieser zu folgen. Der traditionelle Stadtplan weist jene Funktionen auf:

Stadtpläne […] sollen an ausgewählten Beispielen typische Stadtstrukturen darstellen. Dazu gehören rein topografische Aspekte der Situation, Größe und Auslage der Stadt ebenso wie ihre funktionale oder administrative Gliederung, ihre Erschließung durch ihre Straßen und Anbindung an das regionale und überregionale Wegenetz.7

Führt man sich den kleinformatigen Stadtplan vor Augen, so bleibt festzuhalten, dass sich die Darstellung jeglichen kartografischen Prinzipien entzieht. Als »Modell räumlicher Informationen«8 zeigt die Karte keinen der angrenzenden Stadtteile New Yorks – Brooklyn, Bronx, Queens oder Long Island –, Schriftbild, Straßen- oder Gitternetz sind nicht zu verzeichnen und farbige Akzentuierungen werden nur spärlich eingesetzt. Manhattans Grundfläche wird als monochrom graue Farbfläche visualisiert. Innerhalb sind kleinere, weiße Farbflächen zu erkennen, die die Lage des Central Parks markieren, der als einziger topografischer Hinweis funktioniert. Innerhalb der weißen Farbflächen sind weitere kleine monochrom graue Farbflächen, die die Lage größerer Seen des Parks andeuten. Die kartografische Darstellung visualisiert das künstlerische Konzept, dem Durch Manhattan (2017) unterliegt. So lassen sich also »Verfahren der Komplexitätsreduktion, der Zerkleinerung, Fragmentierung, Komprimierung und Hybridisierung«9 feststellen, die die kartografischen Prinzipien verneinen, um damit das künstlerische Konzept zu betonen, das den Stadtplan zum kunstfähigen Material erhebt. Mit dem Fehlen kartografischer Informationen wird dem »unbekannten« Manhattan eine »entleerte« Projektionsfläche verliehen, die dem Kollektiv zudem neuen Handlungsfreiraum für die Stadterfahrung gibt. Außerdem gilt anzuführen, dass sich mit dem Stadtplan, der als künstlerisches Material eingesetzt wird, die These Dantos der »in Kunst verwandelte[n] Banalitäten«10 bestätigt, sodass sich ein klarer Paradigmenwechsel abzeichnet: »die Kunst von der niedrigen Sphäre des Brauchens rein zu halten«.11 Zugleich wird an dieser Darstellung deutlich, was schon im Titel »Durch Manhattan« angedeutet wird: Eine klare Fokussierung Manhattans, die durch die Reduzierung der Karte die Bildung eines Makro- und Mikrokosmos bezweckt.12 Manhattan wird als Makrokosmos inszeniert, in welchem die vielen Topografien der Episoden als facettenreiche Mikrokosmen ausdifferenziert werden.

Des Weiteren lässt sich auf dem Stadtplan Manhattans eine orangefarbene Linie verzeichnen, die die Farbarmut des Stadtplans durchbricht und »von der Südspitze bis zum oberen Ende der Insel«13 führt. Maak/Shapton plädieren für eine Route, die bewusst von den bekannten und oft bereisten Topografien – z. B. die Sehenswürdigkeiten New Yorks – wegführt. Stattdessen visualisiert die geometrische Form der Linie einen historisch gewachsenen Bewegungsmechanismus, der die Besiedlung Manhattans rekonstruiert.14 Somit legt sie den »Urtypus« der menschlichen Bewegung innerhalb dieses urbanen Raumes offen. Die Linie gibt die Bewegung in Manhattan vor und wird dadurch kohärenzstiftend, weil sie die einzelnen Textepisoden, die nach den Topografien auf der Linie benannt werden, in eine chronologische Reihenfolge bringt. Manhattan als isolierte Insel betont zudem den Versuch der Abgrenzung zum weiteren Stadtraum New Yorks. Insgesamt ist die Linie eindeutig als dynamisches Element zu verstehen, das auf verschiedenen Ebenen Bewegung suggeriert.

In der Auseinandersetzung mit dem Stadtplan zeigt sich indes, dass das Gehen grundlegend im künstlerischen Konzept verankert ist. Der performative Akt des Gehens stellt dabei eine elementare Operation zur Stadtaneignung dar.15 Dabei lässt sich die Stadtwahrnehmung nicht nur auf den Sinn des Sehens reduzieren. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein interaktives, flexibles sowie dynamisches Erkunden von Manhattan.16 Die unmittelbare Stadtbegehung in Manhattan generiert also die subjektiven Erfahrungswerte der Künstlerin und des Künstlers, die als Stadtnutzerin und -nutzer individuelle Bedeutungen von Raum produzieren.17 Mit dem Gehen verbunden ist also »eine enge Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und dem durchquerten Raum«.18 Subjektive Stadtwahrnehmung geschieht durch den »Blick von unten«19, sodass das Entstehen der Texte und Aquarellzeichnungen eng an die Perspektive des Fußgängers in Michel de Certeaus Kunst des Handelns (1988) geknüpft ist. Das Künstlerkollektiv befindet sich unmittelbar im Stadtgeschehen, folgt den städtischen Verflechtungen und schreiben einen Text, ohne diesen lesen zu können.20 Es konstituieren sich Geschichten, die »alltäglich, unbestimmt und anders«21 sind und von Maak/Shapton sowohl schriftlich als auch zeichnerisch fixiert werden. Die Perspektive des Voyeurs, der mit Distanz (nur scheinbar) das städtische Gewebe decodieren kann,22 ergibt sich im Rezeptionsprozess des Buchwerkes, da die einzelnen Fragmente – Stadtplan, Zeichnungen sowie Textepisoden – zusammengelesen und zusammengefügt werden können.

Gerade die Aquarellzeichnungen Leanne Shaptons verdeutlichen die Unmittelbarkeit des Entstehungsprozesses. Mit schwarzer Aquarellfarbe evoziert sie Grauabstufungen durch unterschiedlich dosierte Wasserintensität und unterschiedlich starken Farbauftrag, weshalb sich die Aufnahme der Farbpigmente auf dem Papier manifestiert. Es entstehen Hell-Dunkel-Kontraste, die an bestimmten Stellen durch orangefarbene Akzente wie bspw. bei der Linie des Stadtplans ergänzt werden. Insgesamt oszilliert die Formensprache zwischen Abstraktion, die jedoch definierte, figurative Momente besitzt. Sowohl Technik als auch reduzierte Farbigkeit stellen signifikante Charakteristika des Buchwerkes dar.

Stadtplan mit integrierter Linie (Detail). In: Niklas Maak / Leanne Shapton: Durch Manhattan. München, 2012. S. 5.

Im Folgenden soll eine Zeichnung23 betrachtet werden, die auf zwei Buchseiten als Raster angelegt wurde, dreiviertel des Bildraumes einnimmt und über den linken, oberen sowie unteren Bildränder hinausreicht. Eine horizontale Linie, die auf der linken Buchseite positioniert ist, wird von fünf waagerechten Linien gekreuzt, sodass eine insgesamt geometrische Grundstruktur erzeugt wird, die sich in lang gezogene Blöcke aufteilt. Zwar sind die Linien gerade angelegt, zeigen aber massive Abweichungen von der prinzipiellen Geradlinigkeit, die auf ein flüchtiges sowie dynamisches Arbeiten schließen lassen. Gerade hier lassen sich Farbauftrag, Wasserverlauf, Aufnahme der wässerigen Farbe auf dem Papier, die die zeitlichen Bedingungen des Entstehungsprozesses offenlegen. Nicht nur das Gehen, sondern auch das Zeichnen kann in diesem Kontext als performativer Akt angesehen werden.24 Die waagerechten Linien enden vor vier kurzen Textepisoden, die direkt am rechten Seitenrand angeordnet sind. Aufgrund der Kürze der Episoden, deren Anordnung am rechten Buchseitenrand und den identisch nummerierten Episodentiteln (ECKE 10TH STREET, ECKE 11TH STREET, ECKE 12TH STREET) eine Zusammengehörigkeit auf. Im Zusammenwirken mit den vier Episoden verweist die Aquarellzeichnung möglicherweise auf die typische Blockstruktur, die das Straßennetz Manhattans auszeichnet und im Bildraum thematisiert werden. Zusätzlich suggerieren eine schnelle Fortbewegung im notwendigen Gehakt, die Maak/Shapton zwischen den einzelnen Topografien (»Zwischenräume«) abgehen. Anzuführen gilt, dass der Gehakt zwischen den einzelnen Topografien weitestgehend nur imaginiert ist. Die vier Texte stellen deskriptive Raumbeschreibungen, handeln von Musik oder einem Mann, der wahrscheinlich eine enttäuschend romantische Erfahrung durchlebt, weil er mit Blumen ein Haus betritt, diese beim Verlassen noch bei sich trägt und blass aussieht. Es sind also die situationsspezifische sowie ephemere Alltagshandlungen von fremden Personen und Geschichten der Topografien, in denen raumspezifische Geschichten geschrieben werden, die dem Künstlerpaar als Material dienen. Eine andere Zeichnung25 stellt den schwarzen Grundriss einer Eiswaffel dar, zu der sich keine klare Referenz zum Text findet. Der narrative Gehalt der Zeichnung füllt diese Unbestimmtheitsstelle, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass die Künstler auf dem Gehweg zwischen zwei Topografien eine Eiswaffel gegessen haben.

Daniel Stanikowski


Fußnoten

1 Vgl. Hildebrand-Schat, Viola: Die Kunst schlägt zu Buche. Das Künstlerbuch als Grenzphänomen. 2013. S. 20

2 Soltek, Stefan: Vorwort. In: Die Kunst schlägt zu Buche. Das Künstlerbuch als Grenzphänomen. 2013. S. 9.

3 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Fragmentarität, Fremdheit, Fiktionalität. Literarische Großstadtbilder zwischen Wahrnehmung und Vision. In: Bild und Wahrnehmung der Stadt. 2012. S.161

4 Maak, Niklas; Shapton, Leanne: Durch Manhattan. 2017. S. 6.

5 Maak, Niklas; Shapton, Leanne: Durch Manhattan. 2017. S. 8.

6 Vgl. Maak, Niklas; Shapton, Leanne: Durch Manhattan. 2017. S. 5.

7 Finkbeiner, Uwe: Die Bedeutung von Oberflächenuntersuchungen antiker Ruinen am Beispiel der Stadtpläne von Ur und Uruk (TAVO BIV 17-18). In: Von der Quelle zur Karte. 1991. S. 113.

8 Wilhelmly, Herbert: Kartografie in Stichworten. Zug, 1996. S. 18.

9 Autsch, Sabiene; Öhlschläger, Claudia: Das Kleine denken, schreiben, zeigen. Interdisziplinäre Perspektiven. In: Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien. 2014. S. 10.

10 Danto, Arthur Coleman (1991): Die Verklärung des Gewöhnlichen. 2014. S. 9.

11 Dorschel, Andreas: Gestaltung – Zur Ästhetik des Brauchbaren. 2003. S. 97.

12 Vgl. Autsch, Sabiene; Öhlschläger, Claudia: Das Kleine denken, schreiben, zeigen. 2014. S. 10.

13 Maak, Niklas; Shapton, Leanne: Durch Manhattan. 2017. S. 5.

14 Vgl. Maak, Niklas; Shapton, Leanne: Durch Manhattan. 2017. S. 6.

15 Vgl. Füssel, Marian: Tote Orte und gelebte Räume. Zur Raumtheorie von Michel de Certeau S. J. In: Historical Social Research, Band 38, 2013. S. 30.

16 Vgl. Fischer, Ralph: Walking Artists. Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten. 2011. S. 98.

17 Vgl. Dallmann, Antje: ConspiraCity New York. Großstadtbetrachtung zwischen Paranoia und Selbstermächtigung. 2009. S. 47.

18 Nigg, Marie-Louise: Gehen. Raumpraktiken in Literatur und Kunst. 2017. S. 67

19 Dallmann, Antje: ConspiraCity New York. Großstadtbetrachtung zwischen Paranoia und Selbstermächtigung. 2009. S. 41.

20 Vgl. Certeau, Michel de: Die Kunst des Handelns. 1988. S. 181f.

21 Certeau, Michel de: Die Kunst des Handelns. 1988. S. 182.

22 Vgl. Certeau, Michel de: Die Kunst des Handelns. 1988. 180.

23 Vgl. Maak, Niklas; Shapton, Leanne: Durch Manhattan. 2017. S. 66/67.

24 Vgl. Füssel, Marian: Tote Orte und gelebte Räume. 2013. S. 30

25 Vgl. Maak, Niklas; Shapton, Leanne: Durch Manhattan. 2017. S. 43.

Literatur

  • Autsch, Sabiene; Öhlschläger, Claudia: Das Kleine denken, schreiben, zeigen. Interdisziplinäre Perspektiven. In: Sabiene Autsch/Claudia Öhlschläger/Leonie Süwolto (Hg.): Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien. Paderborn: Wilhelm Fink, 2014.
  • Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen von Ronald Vouillié. Berlin: Merve Verlag, 1988.
  • Corbineau-Hoffmann, Angelika: Fragmentarität, Fremdheit, Fiktionalität. Literarische Großstadtbilder zwischen Wahrnehmung und Vision. In: Peter Johanek (Hg.): Bild und Wahrnehmung der Stadt. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 2012.
  • Dallmann, Antje: ConspiraCity New York. Großstadtbetrachtung zwischen Paranoia und Selbstermächtigung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2009.
  • Danto, Arthur Coleman (1991): Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Übersetzt von Max Looser. 8. Auflage. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 2014.
  • Dorschel, Andreas: Gestaltung – Zur Ästhetik des Brauchbaren. 2. Auflage. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003.Finkbeiner, Uwe: Die Bedeutung von Oberflächenuntersuchungen antiker Ruinen am Beispiel der Stadtpläne von Ur und Uruk (TAVO BIV 17-18). In: Wolfgang Röllig (Hg.): Von der Quelle zur Karte. Abschlussbuch des Sonderforschungsbereichs Tübinger Atlas des Vorderen Orients. Weinheim: CHV, 1991.